Martin Auer
Der seltsame Krieg
Geschichten für die Friedenserziehung

Der Träumer

Es war einmal ein Mann, der war ein Träumer. Er dachte sich zum Beispiel: Es muss doch möglich sein, zehntausend Kilometer weit zu sehen. Oder er dachte sich: Es muss doch möglich sein, Suppe mit der Gabel zu essen. Er dachte: Es muss doch möglich sein, auf dem eigenen Kopf zu stehen, und er dachte sich:

Es muss doch möglich sein, ohne Angst zu leben.

Die Leute sagten zu ihm: ,,Das alles geht doch nicht, du bist ein Träumer!" Und sie sagten: ,,Du musst die Augen aufmachen und die Wirklichkeit akzeptieren!" Und sie sagten: ,,Es gibt eben Naturgesetze, die lassen sich nicht ändern!"

Aber der Mann sagte: ,,Ich weiß nicht... Es muss doch möglich sein, unter Wasser zu atmen. Und es muss doch möglich sein, allen zu essen zu geben. Es muss doch möglich sein, dass alle das lernen, was sie wissen wollen. Es muss doch möglich sein, in seinen eigenen Magen zu gucken."

Und die Leute sagten: ,,Reiß dich zusammen, Mensch, das wird es nie geben. Du kannst nicht einfach sagen: Ich will und deswegen muss es geschehen. Die Welt ist, wie sie ist, und damit basta!"

Als das Fernsehen erfunden wurde und die Röntgenstrahlen, da konnte der Mann zehntausend Kilometer weit sehen und auch in seinen eigenen Magen. Aber niemand sagte zu ihm: ,,Na gut, du hast ja doch nicht ganz Unrecht gehabt." Auch nicht, als das Gerätetauchen erfunden wurde, so dass man problemlos unter Wasser atmen konnte. Aber der Mann dachte sich: Na also. Vielleicht wird es sogar einmal möglich sein, ohne Kriege auszukommen.

Der blaue Junge

Weit draußen hinter den Sternen ist alles ganz anders als hier. Und noch weiter draußen ist alles noch ganz anders als dort, wo alles ganz anders ist als hier.

Aber wenn man ganz weit fliegen würde, ganz weit, ganz fern, dorthin, wo alles ganz anders ist als überall, dort wäre es vielleicht dann wieder fast genauso wie hier.

In dieser fernen Gegend ist vielleicht ein Planet, so groß wie unsere Erde, und auf diesem Planeten leben vielleicht Leute, die fast genauso aussehen wie wir, nur dass sie blau sind und ihre Ohren zuklappen können, wenn sie nichts hören wollen.

Und auf diesem fernen Planeten war vielleicht einmal ein großer Krieg ausgebrochen, und viele der blauen Leute waren gestorben. Viele Waisenkinder waren zurückgeblieben, und auf den Trümmern eines Hauses, das die Bomben zerstört hatten, saß ein kleiner blauer Junge und weinte um seinen Vater und seine Mutter. Er saß lange Zeit so da und weinte, aber dann hörte er auf, denn er hatte alle Tränen geweint, die er gehabt hatte. Er klappte seinen Kragen in die Höhe, steckte die Hände in die Taschen und ging davon. Wenn er einen Stein sah, kickte er ihn fort, und wenn er eine Blume sah, trat er darauf.

Ein kleiner Hund kam ihm entgegen, sah ihn an und wedelte mit dem Schwanz. Dann drehte er um und ging neben dem Jungen her, so, als hätte er sich entschlossen, ihn zu begleiten.

»Geh weg!« sagte der Junge zu dem Hund. »Du musst weggehen. Wenn du bei mir bleibst, muss ich dich lieb haben, und ich will in meinem ganzen Leben niemanden mehr lieb haben.«

Der Hund sah ihn an und wedelte lustig mit dem Schwanz. Da fand der Junge ein Gewehr, das neben einem toten Soldaten lag. Er hob das Gewehr auf und zeigte es dem Hund. »Dieses Gewehr kann dich erschießen!« sagte er böse. Da lief der Hund fort.

»Dich nehme ich mit!« sagte der Junge zu dem Gewehr. »Du wirst mein guter Kamerad sein.« Und er schoss mit dem Gewehr auf einen toten Baum.

Dann fand er in einem Feld einen verlassenen Flugroller. Er setzte sich hinein und versuchte ihn zu starten. Der Flugroller funktionierte.

»Jetzt habe ich ein Gewehr und einen Flugroller«, sagte der Junge. »Die sollen jetzt meine Familie sein. Ich hätte auch einen Hund haben können, aber er wird vielleicht getötet werden, und dann werde ich vor Weinen sterben müssen.«

Er flog mit dem Flugroller, bis er ein Haus sah, aus dem Rauch kam. »Dort lebt noch jemand«, sagte der Junge. Er flog um das Haus herum und schaute durch die Fenster. Es war nur eine alte Frau da, die etwas kochte.

Der Junge stellte seinen Flugroller vor dem Haus ab, nahm sein Gewehr und ging hinein. »Ich habe ein Gewehr!« sagte der Junge zu der alten Frau. »Du musst mir etwas zu essen geben!«

»Ich würde dir auch so etwas geben«, sagte die alte Frau, »du kannst dein Gewehr ruhig wegstellen.«

»Du sollst nicht nett sein zu mir!« sagte der Junge böse. »Mein Gewehr kann dich erschießen!«

Da gab die alte Frau ihm etwas zu essen, und er flog weiter.

So lebte der Junge nun. Er richtete sich ein Versteck ein in einem verlassenen Haus. Wenn er hungrig war, flog er irgendwohin, wo es Leute gab, und zwang sie mit seinem Gewehr, ihm etwas zu essen zu geben.

Sonst flog er über die verlassenen Schlachtfelder und sammelte Teile von Waffen und Fahrzeugen, die dort liegengeblieben waren. Das brachte er alles in sein Versteck.

»Ich werde mir einen Riesenpanzerroboter bauen!« sagte er zu sich selbst. »Er wird hundert Meter groß sein und hunderttausend Tonnen schwer, und ganz oben in seinem Kopf werde ich meine Lenkkabine haben. Dann bin ich mächtig, und niemand kann mir etwas tun.«

Eines Tages kam an seinem Versteck ein Mädchen vorbei. Der Junge ging mit seinem Gewehr hinaus und sagte: »Du musst weggehen! Mein Gewehr kann dich erschießen !

»Ich will doch gar nichts von dir«, sagte das Mädchen. »Ich bin nur schauen gegangen, ob die Pilze wieder wachsen.«

»Du musst weggehen!« sagte der Junge. »Ich will niemanden bei mir haben!«

»Bist du denn ganz allein?« fragte das Mädchen.

»Nein«, sagte der Junge, »ich habe ein Gewehr und einen Flugroller, die sind meine Familie. Und eines Tages werde ich einen Riesenpanzerroboter haben!«

»Hast du denn niemand Lebendiges'?« fragte das Mädchen.

»Ich hätte einen Hund haben können. Aber wenn man ihn getötet hätte, hätte ich vor Weinen sterben müssen.«

»Ich habe auch niemand Richtiges«, sagte das Mädchen. »Wir könnten zusammenbleiben.«

»Ich will niemand haben, den ein Gewehr erschießen kann!«

»Dann musst du dir eben jemand suchen, den kein Gewehr erschießen kann!« sagte das Mädchen und ging fort.

Der Junge aber baute sich einen Riesenpanzerroboter und setzte sich hinein. Ganz oben in den Kopf setzte er sich, dort, wo er die Lenkkabine eingebaut hatte.

Dann machte er sich auf und fuhr in seinem Riesenpanzerroboter durch das Land. Überall schrien die Leute, wenn sie ihn kommen sahen, und wollten davonlaufen. Aber dem Riesenpanzerroboter konnten sie nicht entkommen.

Der Junge hatte oben in seiner Lenkkabine ein Mikrofon, und alles, was er da hineinsagte, kam brüllend aus dem Mund des Riesenpanzerroboters. »Ist hier jemand, den ein Gewehr nicht erschießen kann?« brüllte der Roboter. Aber wo immer er hinkam, liefen die Leute nur vor ihm davon, und nie fand er jemanden, den ein Gewehr nicht erschießen kann.

Eines Tages aber sah er von seiner Lenkkabine hoch oben, dass da unten jemand nicht weglief vor ihm, sondern stehen blieb und etwas hinaufrief. Er war aber so hoch oben, dass er es nicht hören konnte.

»Vielleicht ist das jemand, den ein Gewehr nicht erschießen kann?« dachte der Junge und kletterte hinunter. Es war aber die alte Frau, die ihm damals Essen gekocht hatte. »Wolltest du mir etwas sagen?« fragte der Junge.

»Ja«, sagte die alte Frau. »Ich habe von jemandem gehört, den ein Gewehr nicht erschießen kann. Ich dachte, das muss ich dir sagen.«

»Und wer ist das?« fragte der Junge.

»Es ist ein alter Mann, der oben auf dem Mond wohnt. «

»Dann muss ich ihn suchen«, sagte der Junge ,»denn ich will niemanden haben, den ein Gewehr erschießen kann.« Und er legte einen Hebel um, und sein Riesenpanzerroboter verwandelte sich in eine Riesenpanzerrakete und flog mit ihm zum Mond.

Oben auf dem Mond musste der Junge lange suchen. Aber schließlich fand er den alten Mann. Der saß hinter einem Fernrohr und schaute auf den blauen Planeten hinunter.

»Bist du der, den kein Gewehr erschießen kann?« fragte der Junge den alten Mann.

»Ich glaube schon«, sagte der alte Mann.

»Und was siehst du da in deinem Rohr'?«

»Ich studiere die Leute auf dem Planeten unten.«

»Kann ich vielleicht bei dir bleiben?« fragte der Junge.

»Vielleicht«, sagte der alte Mann. »Warum willst du denn gerade bei mir bleiben?«

»Weil ich bei niemandem bleiben will, den man erschießen kann. Als meine Eltern gestorben sind, habe ich alle Tränen geweint, die ich hatte. Ich hätte einen Hund haben können, aber wenn man ihn getötet hätte, hätte ich vor Weinen sterben müssen. Ich hätte auch bei einer alten Frau bleiben können oder bei einem kleinen Mädchen. Aber sie waren nicht gepanzert gegen Gewehrkugeln, und wenn man sie getötet hätte, hätte ich vor Weinen sterben müssen.«

»Es ist gut«, sagte der alte Mann, »du kannst bei mir bleiben. Mich kann niemand erschießen, denn hier gibt es keine Gewehre.«

»Ist es nur das?« fragte der Junge.

»Ja, nur das«, sagte der alte Mann.

»Ich habe aber mein Gewehr mitgebracht.«

»Schade«, sagte der alte Mann, »jetzt kannst du nicht bei mir bleiben. Dein Gewehr könnte mich erschießen. «

»Dann muss ich also wieder gehen«, sagte der Junge.

»Ja«, sagte der alte Mann.

»Schade«, sagte der Junge.

»Tut es dir leid?« fragte der alte Mann.

»Ja«, sagte der Junge, »ich wäre gern hier geblieben.«

»Du könntest vielleicht dein Gewehr wegwerfen?« sagte der alte Mann.

»Vielleicht«, sagte der Junge.

»Und dann könntest du doch bei mir bleiben«, sagte der alte Mann.

»Vielleicht«, sagte der Junge. »Und was würde ich dann tun?«

»Du könntest durch dieses Fernrohr schauen. Dann könntest du vielleicht herausfinden, warum die Leute da unten Kriege führen.«

»Und warum führen sie Kriege?«

»Ja, ich weiß es auch nicht. Es hat wohl damit zu tun, dass sie nicht genug voneinander wissen. Dass sie so viele sind und ihr Leben so kompliziert ist, dass keiner weiß, was seine Taten für Folgen haben. Dass sie nicht wissen, woher das Fleisch kommt, das sie essen, und wohin das Brot geht, das sie backen. Dass sie nicht wissen, ob aus dem Eisen, das sie aus der Erde holen, Bagger gemacht werden oder Kanonen. Dass sie nicht wissen, ob sie das Fleisch, das sie essen, nicht anderen wegessen. Wenn sie sich so von oben sehen könnten, würden sie vieles vielleicht besser verstehen. «

»Dann müsste man es ihnen zeigen?« sagte der Junge.

»Vielleicht«, sagte der alte Mann, »aber ich bin zu alt und zu müde dazu.«

Da erst ließ der Junge sein Gewehr fallen, und es fiel durch den Weltraum hinunter, bis auf den Planeten, und dort zerbrach es.

Der Junge aber blieb lange, lange Zeit bei dem alten Mann auf dem Mond und schaute durch das Fernrohr und studierte die Leute da unten. Und eines Tages ist er vielleicht hinuntergeflogen und hat ihnen erklärt, was sie falsch gemacht haben.

Auf dem Karottenplaneten

Auf einem winzigen Planeten, da lebten einmal welche, die waren fleißig, und andere, die waren weniger fleißig. Dann gab es noch ein paar ganz Fleißige und ein paar ganz Faule. Mit einem Wort - es war so wie überall im Universum.

Nur dass die Faulen und die Fleißigen alles, was sie erzeugten - es waren hauptsächlich verschiedene Sorten Karotten -, auf einen Haufen schmissen und dann gemeinsam davon aßen. Das war nicht so wie überall.

Eines Tages aber sagten ein paar ganz Fleißige:

„Jetzt reicht's aber. Wir schuften und schuften, und dann kommen die andern daher, die den ganzen Tag auf dem Rücken liegen und in die Sonne pfeifen, und wollen unsere Karotten essen." Und sie schmissen ihre Karotten nicht mehr auf den gemeinsamen Haufen, sondern behielten sie zu Hause und fraßen sich dicke Wänste an.

Die ganz Faulen zuckten nur die Achseln und aßen weiter vom großen Haufen, und natürlich aßen sie mehr davon weg, als sie selber hinbrachten.

Da merkten die Mittelfleißigen und die Mittelfaulen, dass jetzt doch auf jeden weniger kam; denn die ganz Fleißigen hatten ja immer besonders viele Karotten gebracht, mehr, als sie selber aßen.

Also sagten die Mittelfleißigen: „Dann wollen wir aber auch unsere Karotten selber behalten", und sie schmissen sie nicht mehr auf den großen Haufen, sondern machten sich jeder ein kleines Häuflein bei sich zu Hause.

Und die Mittelfaulen machten es ebenso. „Es bleibt uns ja gar nichts anderes übrig", sagten sie zu den ganz Faulen.

Und jetzt hatte jeder seinen eigenen Karottenhaufen vor seiner Hütte, und wenn er Lust auf eine Karottensorte hatte, die nicht in seinem Haufen vorkam, dann musste er sehen, ob er sie bei jemand anderem eintauschen konnte.

Da fing bald ein Kommen und Gehen an, und nach der Arbeit hatten die Leute noch stundenlang zu tun mit Karottentauschen, bis jeder alle Karottensorten im Hause hatte, die er brauchte oder zu brauchen glaubte.

„Das sind ja ganz neue Sitten!" sagten die ganz Faulen unter sich. Für sie gab es jetzt keinen gemeinsamen Haufen mehr, von dem sie hätten schmarotzen können. Daraus zog aber jeder eine andere Lehre. Einige sagten sich: „Na schön, da muss ich eben doch mehr arbeiten." Das war allerdings nicht so einfach, denn wenn so ein bekehrter Fauler auf ein Feld kam, um dort Karotten zu pflanzen, war da meistens einer, der sagte: „He, hier habe doch immer ich Karotten gepflanzt, das ist mein Feld!"

Andere aber gingen einfach zu den Hütten der Reicheren und nahmen sich dort von den Karottenhaufen, worauf sie gerade Lust hatten. „Wir haben immer vom gemeinsamen Haufen genommen. Und wenn es jetzt viele Haufen gibt, dann sind das eben viele gemeinsame Haufen. Wir nehmen uns jedenfalls davon", sagten sie.

Das war natürlich den Reicheren nicht recht, und einige fingen an, Zäune um ihre Karottenhaufen zu bauen. Da mussten bald alle Zäune um ihre Haufen bauen. Denn je mehr Leute Zäune um ihre Haufen hatten, um so mehr holten sich die ganz Faulen, die an den alten Sitten festhielten, von den Haufen ohne Zäune.

Über kurz oder lang hatten alle, die einen Haufen hatten, auch einen Zaun darum. Jetzt hatten sie nach der Arbeit nicht nur mit dem Tauschen, sondern auch noch mit dem Flicken und Ausbessern ihrer Zäune zu tun und mit dem Aufpassen, dass keiner drüberkletterte.

Bald murrten einige: „Früher haben wir uns nach der Arbeit alle beim großen Karottenhaufen getroffen und Witze erzählt und Bockspringen veranstaltet. Jetzt hocken wir nach der Arbeit nur noch zu Hause, bewachen unsere Karotten und bessern unsere Zäune aus. Und am Morgen sind wir todmüde und können gar nicht gescheit Karotten pflanzen. Irgendwie haben wir jetzt viel mehr zu tun als früher, aber die Karotten werden davon nicht mehr."

Und einige schlugen vor, man sollte doch wieder zur alten Sitte mit dem großen gemeinsamen Haufen zurückkehren. „Lieber füttern wir doch ein paar ganz faule Schmarotzer mit, als dass wir uns dauernd mit dem Tauschen und Aufpassen und Zäuneflicken abplagen!"

Aber die Reichsten sagten: „Nein, wenn wir zur alten Sitte zurückkehren, dann heißt das, das Schmarotzen zu erlauben. Dann werden alle schmarotzen wollen, und keiner wird mehr Karotten anpflanzen, und wir werden alle verhungern!"

„Aber so doch nicht", sagten die anderen. „Den meisten ist es zu langweilig, den ganzen Tag auf dem Rücken zu liegen und der Sonne was vorzupfeifen. Es gibt doch nur ganz wenige, die wirklich so faul sind. Karottenpflanzen macht doch in Wirklichkeit Spaß."

„Nein", sagten die Reichsten, „Karottenpflanzen macht keinen Spaß. Nur Karottenhaben macht Spaß.

Ihr könnt ja eure Karotten mit den Faulenzern teilen, wenn ihr wollt. Wir jedenfalls reißen unsere Zäune nicht mehr ab!"

„Tja", sagten da einige von den Mittelreichen, „wenn die Ganzreichen nicht mitmachen, dann wollen wir unsere Zäune lieber auch behalten, wir haben ja nicht soviel, dass wir es mit den Faulenzern teilen könnten."

Und die Mittelarmen sagten: „Ja, wenn nur wir teilen sollen, dann haben alle zu wenig, da können wir nicht mitmachen. Wir müssen unsere Zäune leider behalten. „

Und so wurde diesmal nichts daraus. Und obwohl eigentlich die meisten wussten, dass jetzt alle mehr Arbeit hatten, ohne dass es deswegen mehr Karotten gab, schafften sie es einfach nicht, zur alten Sitte zurückzukehren.

Dafür passierten einige andere interessante Dinge. Einige von denen, die keine großen Karottenfelder hatten, gingen zu einigen Reicheren und sagten:

„Hört einmal, wenn ihr mir jeder jeden Tag ein paar Karotten gebt, dann pass ich dafür auf eure Haufen auf."

Und andere kamen auf die Idee und boten an: „Wer mir Karotten gibt, dem flicke ich dafür seinen Zaun!"

Und wieder andere gingen von Haus zu Haus und sagten: „Gebt mir ein paar von euren Karotten, ich gehe sie für euch eintauschen, wenn ich dafür jede fünfte Karotte behalten darf."

Das ging so eine Weile, und dann kratzten sich einige am Kopf und sagten: „Eigentlich sollte ich jetzt mehr Zeit haben, aber jetzt muss ich wieder mehr Karotten anpflanzen, damit ich den Zäuneflicker und den Nachtwächter und den Karottentauscher bezahlen kann!"

Und wieder schlugen einige vor, zur alten Sitte zurückzukehren und die Zäune abzureißen. Aber seltsamerweise waren jetzt nicht nur die Reichsten dagegen, sondern auch die Ärmsten: „Wollt ihr uns unsere Arbeit wegnehmen!" schrien die Zäuneflicker.

„Wovon sollen wir leben?" schrien die Nachtwächter.

„Sollen wir verhungern?" schrien die Karottentauscher.

Tja, und so blieb es eben bei der neuen Sitte.

Angst

Warum
sieht mich der da 
so misstrauisch an?

Hat er Angst vor mir?

Warum
hat der da 
wohl Angst vor mir?

Glaubt er, ich will ihm was tun?

Warum
glaubt der da, 
ich will ihm was tun? 
Ich tu doch keinem was!

Ich tu keinem was, außer, 
es will einer mir was tun!

Wenn der also glaubt, 
ich will ihm was tun, 
dann nur, weil er weiß: Ich tu jedem was, 
der mir was tut.
Also: 
will der mir was tun!

Da geh ich wohl besser gleich hin und hau ihm eins in die  Fresse, 
damit er mir nichts tun kann.

Autsch!
Seine Faust war schneller als meine. 
Jetzt liege ich da.

Aber ich hab's ja gleich gewusst,
dass der mir was tun will!

Noch einmal Angst

Wir sind ein friedliches Land
und greifen niemanden an. 
Es sei denn, 
wir würden angegriffen.

Wer nicht vorhat, 
uns anzugreifen, 
braucht keinerlei Angst vor uns zu haben.

Wer sich vor uns 
zu schützen versucht, 
beweist dadurch, 
dass er Angst vor uns hat.

Wer vor uns Angst hat, 
beweist dadurch, 
dass er vorhat, 
uns anzugreifen.

Also ist doch klar, 
dass wir jeden angreifen müssen, 
der Verteidigungsmaßnahmen vorbereitet.

Die seltsamen Leute vom Planeten Hortus

Auf dem Planeten Hortus lebten die Apfelleute, die Pflaumenleute, die Birnenleute und die Himbeerleute. Die Apfelleute lebten von Apfelmus, Apfelkompott, Apfelmarmelade und Apfelkuchen. Die Pflaumenleute lebten von Pflaumenmus, Pflaumenkompott, Pflaumenmarmelade und Pflaumenkuchen. Und bei den Birnenleuten und den Himbeerleuten war es so ähnlich.

Das ging eine Zeit lang ganz gut, aber eines Tages hing den Birnenleuten die ewige Birnenmarmelade zum Hals heraus. Da sagte einer von den Birnenleuten: "Wisst ihr was! Wir sollten Räuber werden!"

"Räuber? Was ist denn das?"

"Ganz einfach: Wir schleichen uns in der Nacht an die Pflaumenleute heran, und wenn sie alle schlafen, fallen wir über sie her und verprügeln sie. Dann nehmen wir so viele Pflaumen, wie wir tragen können, und rennen davon. Und dann können wir endlich einmal Pflaumenmus und Pflaumenmarmelade, Pflaumenkompott und Pflaumenkuchen essen!"

"Bravo!" schrien die Birnenleute. "Das wird ein Spaß!"

Und sie schlichen sich an das Dorf der Pflaumenleute an, und als alle schliefen, fielen sie über das Dorf her, drangen in die Häuser ein und verprügelten die Pflaumenleute. Dann nahmen sie so viele Pflaumen, wie sie tragen konnten, und rannten davon.

Die Pflaumenleute waren ganz erschrocken und traurig. "Was war das?" sagte sie zueinander. "So etwas hat es noch nie gegeben! Vielleicht sind die Birnenleute verrückt geworden? Wir sollten die Frau Zwetschkenstiel zu ihnen schicken!"

Die alte Frau Zwetschkenstiel konnte nämlich aus Pflaumenkernen ein Öl machen, damit heilte sie alle Krankheiten außer gebrochenen Beinen.

Also machte sich die Frau Zwetschkenstiel mit ihrem Kännchen voll Pflaumenkernöl auf den Weg.

Aber am Abend kam sie wieder zurück. "Sie wollen sich nicht heilen lassen" sagte sie. "Sie haben mir Prügel angedroht und mich weggeschickt."

"Das ist schlimm!", sagten die Pflaumenleute traurig. "Was machen wir jetzt?"

"Wenn sie sich nicht heilen lassen wollen, dann sind sie nicht krank, sondern böse. Wir müssen sie bestrafen!"

"Ja, das machen wir! Wir überfallen sie, und nehmen ihnen ihre Birnen weg. Das ist nur gerecht!"

Und alle jubelten und schrien durcheinander, und nur die Frau Zwetschkenstiel schüttelte besorgt den Kopf.

Also machten sich die Pflaumenleute auf den Kriegspfad, und in der Nacht fielen sie über die Birnenleute her und verprügelten sie. Dann nahmen sie so viele Birnen, wie sie tragen konnten, und liefen weg.

"Und was macht ihr, wenn sie morgen wieder über uns herfallen?" fragte die Frau Zwetschkenstiel.

Da schauten alle besorgt, aber der junge Herr Kern sagte: "Wir stellen einfach Wachen auf rund um das Dorf, mit langen Stangen, und wenn sie dann kommen, verprügeln wir sie."

Und das machten sie auch, und als die Birnenleute ein paar Nächte später wieder kamen, kriegten sie entsetzliche Dresche.

"Na, was hab ich gesagt! Wir haben es ihnen ordentlich gegeben!" sagte der Herr Kern stolz. "Die trauen sich so bald nicht mehr über uns herzufallen."

"Schön, schön", sagten die jungen Männer, die Wache gehalten hatten. "Aber weißt du was: "Wir haben zwei Wochen lang jede Nacht Wache gehalten, und am Tag haben wir geschlafen. Inzwischen haben wir allen unseren Pflaumenkuchen und alle unsere Pflaumenmarmelade aufgegessen, und wir haben keine Zeit gehabt zu kochen oder zu backen!"

"Dann sollen euch alle etwas geben!", sagte der Herr Kern, "denn ihr habt ja für alle Wache gehalten!"

Da gaben alle Pflaumenleute den Wächtern etwas, und der Herr Kern kriegte am meisten. "Denn ich muss mich ja um alles kümmern!", sagte er. "Ich trage die Verantwortung!"

Aber nach einiger Zeit murrten die Pflaumenleute, denn bisher hatte es immer gerade für alle gereicht. Aber jetzt, wo all die jungen Männer Wache hielten, statt sich um die Pflaumenbäume zu kümmern und zu kochen und zu backen, jetzt reichte es nicht mehr.

"Ja" sagte der Herr Kern, "wer ist schuld, dass unsere jungen Männer nicht arbeiten können, sondern Wache halten müssen? Die Birnenleute! Also müssen die Birnenleute dafür bezahlen!"

Und er marschierte mit seinen Männern zum Dorf der Birnenleute, um sie wieder auszurauben. Aber die Birnenleute hatten auch Wachen aufgestellt, und es gab eine fürchterliche Prügelei in der Mitte zwischen den beiden Dörfern, und die Pflaumenleute kamen nicht an die Birnen heran.

Da sagte der Herr Kern: "Wir müssen Netze knüpfen, und sie über die Wachen der Birnenleute werfen. Dann können wir sie besiegen und das Dorf ausrauben!"

Also mussten alle Pflaumenleute Netze knüpfen, und diesmal gelang der Raubzug.

Stolz kam der Herr Kern an der Spitze seiner Truppen zurück, und jeder der jungen Männer trug einen Sack Birnen auf den Schultern. Der Herr Kern trug auch etwas, nämlich die Verantwortung.

In der Mitte des Dorfs ließ der Herr Kern die Birnen zu einem großen Haufen aufschütten. Dann teilte er den Haufen in drei kleinere Haufen. "So" sagte er: "Ein Haufen wird unter alle Dorfbewohner verteilt, damit alle genug zu essen haben. Ein Haufen wird unter meine Soldaten verteilt, weil sie so tapfer gekämpft haben. Und einen Haufen bekomme ich, weil ich die Verantwortung für alles trage."

Und alle jubelten und klopften dem Herrn Kern auf die Schulter. Nur die alte Frau Zwetschkenstiel schüttelte besorgt den Kopf, und sagte: "Und wenn sie jetzt auch Netze knüpfen, die Birnenleute?"

"Ich weiß schon!", sagte der Herr Kern. "Wir bauen eine Mauer rund um das Dorf, dann können sie uns nie mehr überfallen"

Und so mussten die Pflaumenleute eine Mauer rund um das Dorf bauen.

Aber die Birnenleute wollten ihre Niederlage nicht auf sich sitzen lassen. Und als ihre Kundschafter berichteten, dass die Pflaumenleute eine Mauer um ihr Dorf bauten, da bauten die Birnenleute auch eine Mauer um ihr Dorf. Und sie knüpften Netze, um die Wachen fangen zu können. Und außerdem bauten sie sich Leitern, um über die Mauer der Pflaumenleute klettern zu können. Und eines Nachts überfielen sie mit ihren Leitern das Pflaumendorf und raubten es aus.

"Jetzt ist es genug!" sagte da der Herr Kern. "Wir müssen diesen weichen Birnen endlich eine Lektion erteilen, von der sie sich nie wieder erholen!"

Und er befahl den Pflaumenleuten, einen großen Turm auf Rädern zu bauen. Den wollte er zu der Mauer des Birnendorfs schieben und dann von oben Feuer auf die Häuser der Birnenleute werfen. Aber die Birnenleute bauten inzwischen eine gewaltige Steinschleuder, mit der sie die Mauer des Pflaumendorfs zusammenschießen wollten.

Und eines Nachts schlich die Armee der Pflaumenleute auf das Dorf der Birnenleute zu, und die Armee der Birnenleute schlich auf das Dorf der Pflaumenleute zu. Und weil die Nacht dunkel und neblig war, schlichen die Armeen aneinander vorbei, ohne es zu bemerken. Als die Pflaumenleute ihren Turm vor der Mauer der Birnenleute aufgestellt hatten, stieg der Herr Kern hinauf und brüllte: "Macht das Tor auf, und ergebt euch, sonst zünden wir euer ganzes Dorf an."

Und weil die Armee der Birnenleute fort war, machten die Dorfbewohner die Tore auf und ließen die Pflaumenleute herein. Und als die Birnenleute ihre Steinschleuder vor die Mauer des Pflaumendorfs geschoben hatten, schrieb ihr Anführer auf einen Zettel: "Ergebt euch, sonst wird euer ganzes Dorf zerschossen!" Und den Zettel wickelte er um einen Stein und ließ ihn über die Mauer schießen. Und die Pflaumenleute machten auch die Tore auf und ließen die Birnenleute herein.

Aber als die Armeen anfangen wollten zu rauben, da war fast nichts mehr da. Nur ein paar Töpfchen Marmelade, ein paar vertrocknete Kuchen, und ein Rest Kompott, aber das war schon schimmlig geworden.

"Es ist nichts mehr da" sagten die Birnenleute zu den Pflaumensoldaten. "Wir haben keine Zeit gehabt zu kochen und uns um die Bäume zu kümmern, es ist alles für den Krieg aufgegangen."

"Wir haben nichts mehr" sagten die Pflaumenleute zu den Birnensoldaten, "wir haben keine Zeit gehabt, die Bäume zu pflegen und Kuchen zu backen, es ist alles für den Krieg aufgegangen."

"Mist!" sagte der Anführer der Birnensoldaten, und kehrte wieder um.

"Verdammt!" sagte der Herr Kern und führte seine Armee wieder zurück. Im Morgengrauen trafen sich die beiden Armeen in der Mitte zwischen den beiden Dörfern und vor lauter Zorn fingen sie eine Prügelei an. Aber die beiden Feldherren prügelten sich nicht. Sie standen jeder auf einem kleinen Hügel, schauten einander böse an und grübelten.

Als sie fanden, dass die Armeen sich genug geprügelt hatten, kommandierten sie Abmarsch, und zogen mit ihren Armeen heim.

Am nächsten Tag rief der Herr Kern die Pflaumenleute zusammen und sagte: "So, jetzt müssen wir schleunigst an die Arbeit gehen und schnell ein paar Pflaumenkuchen backen. Wir müssen schneller backen als die anderen, damit wir früher als sie für die nächste Schlacht gerüstet sind!"

Aber die Frau Zwetschkenstiel sagte: "Das geht nicht. Es sind nämlich keine Pflaumen da, weil sich niemand um die Bäume gekümmert hat. Die Pflaumen sind alle am Boden verfault. Und Mehl für Kuchen ist auch keines mehr da. Und überhaupt geht das so nicht mehr weiter. Was für einen Sinn hat es, dass wir uns gegenseitig ausrauben? Wenn wir genug zu essen haben wollen, muss ein jedes den ganzen Tag arbeiten, die Birnenleute genauso wie wir. Vom Rauben wachsen keine Pflaumen und auch keine Birnen. Wir müssen mit den Birnenleuten Frieden schließen!"

Und die Pflaumenleute, die sich endlich wieder um die Pflaumenbäume kümmern und Kompott machen wollten, stimmten ihr zu.

Nur der Herr Kern war sauer. Denn wenn kein Krieg war, konnte er nicht kommandieren und die Verantwortung tragen, und es gab keine Beute, von der er sich den größten Teil nehmen konnte.

Er wanderte ins Dorf der Himbeerleute und sagte zu ihnen: "Hört zu. Die Birnenleute haben nichts mehr zu essen, sie haben alles für den Krieg ausgegeben. Also besteht die große Gefahr, dass die Birnenleute als nächstes euch ausrauben werden!"

Die Himbeerleute kratzten sich hinter den Ohren und sagten: "Wir haben ihnen doch nichts getan!"

"Das ist egal" sagte der Herr Kern, "sie sind Räuber und holen sich ihre Beute, wo sie sie kriegen können."

"Das ist schrecklich!" sagten die Himbeerleute. "was sollen wir denn da machen? Wir verstehen nichts vom Kriegführen."

"Aber wir!" sagte der Herr Kern. "Ich habe einen Vorschlag: Gebt uns ein paar Kübel Himbeeren - wir sind nämlich zufällig gerade etwas knapp mit Obst - und wir helfen euch gegen die Birnenleute."

"Na schön", seufzten die Himbeerleute, "was bleibt uns denn anderes übrig!"

Und dann ging der Herr Kern wieder zurück ins Pflaumendorf, und sagte zu den Pflaumenleuten: "Bis nur nächsten Pflaumenernte dauert es noch fast ein Jahr! Wovon wollt ihr denn in der Zwischenzeit leben? Wenn wir Frieden schließen, müssen wir ein ganzes Jahr hungern. Aber wenn wir uns mit den Himbeerleuten verbünden, um gegen die Birnenleute zu kämpfen, dann kriegen wir jetzt gleich Himbeeren von ihnen."

"Ja, das ist besser" schrien die jungen Männer, die sich schon ans Kämpfen gewöhnt hatten. "Kämpfen können wir besser als Pflaumen züchten."

Die anderen Pflaumenleute kratzten sich hinter den Ohren und sagten: "Ein ganzes Jahr hungern, wer soll denn das aushalten?" und stimmten auch dem Herrn Kern zu. Nur die Frau Zwetschkenstiel schüttelte besorgt den Kopf.

Der Feldherr der Birnenleute aber hatte sich inzwischen mit den Apfelleuten verbündet. Und so fing alles wieder von vorne an: Die Himbeerleute und die Apfelleute mussten auch Mauern um ihre Dörfer bauen, Netze knüpfen, Leitern und Schleudern und Belagerungstürme bauen, und außerdem noch ihren Beschützern die Hälfte von ihrem Obst abgeben. Und als das Jahr um war, gab es auf dem ganzen Planeten nichts mehr zu essen und nichts mehr zu rauben.

Da rief die Frau Zwetschkenstiel alle Frauen des Planeten zusammen - das ging, weil es ja nur vier Dörfer waren - und sagte zu ihnen:

"So geht das nicht weiter. Vom Rauben und Kriegführen wachsen keine Pflaumen und keine Himbeeren, keine Äpfel und keine Birnen. Irgendwer muss die Arbeit machen, sonst gibt es auch keine Beute. Und weil es nur gerade reicht, wenn ein jedes seine Arbeit macht, können wir uns die ganze Räuberei einfach nicht leisten! Netze und Leitern und Steinschleudern und Mauern und Belagerungstürme kann man nicht essen!"

"Richtig!" sagten die Frauen.

"Also, dann sagt euren Männern, dass sie sich die Hand geben sollen und schleunigst in die Gärten zurückkommen. Sonst werden wir alle verhungern!"

"Gut!" sagten die Frauen.

Und so wurde ein Vertrag geschlossen, und die Männer gaben sich alle die Hand und murmelten: "Entschuldigung, wird nicht mehr vorkommen" und dann war wieder Frieden auf dem Planeten Hortus. Und nach zwei, drei knappen Jahren hatten alle wieder genug zu essen, und die Frau Zwetschkenstiel schickte in alle Dörfer Töpfe mit Pflaumenmarmelade, und die Frauen aus den anderen Dörfern schickten Apfelkuchen und Birnenmus und Himbeerkompott.

Und weil solange Frieden herrschte, hatten die Leute Zeit, auch ein bisschen nachzudenken und etwas zu erfinden. Da erfand einer eine Apfelpflückzange, mit der man die Äpfel pflücken konnte, ohne auf die Bäume zu klettern. Und einer züchtete Himbeersträucher ohne Dornen. Und einer erfand ein Gerät, mit dem man die Pflaumen ganz leicht entkernen konnte. Und einer erfand ein Spezialmesser zum Birnenschälen.

"Fein" sagten die Frauen, "jetzt braucht ein jedes nur mehr den halben Tag zu arbeiten, und es reicht trotzdem für alle"

Aber eines Tages stand der Herr Kern auf, und sagte zu den Pflaumenleuten: "Das geht nicht, dass wir den halben Tag auf der faulen Haut liegen, nur weil die Arbeit mit dem neuen Pflaumenentkerner jetzt leichter geworden ist. Was ist, wenn den Birnenleuten einfällt, über uns herzufallen und uns zu zwingen, die andere Hälfte des Tages für sie zu arbeiten? Die Birnenleute haben ein neues Birnenschälmesser erfunden. Das ist eine große Gefahr. Denn wenn sie nicht mehr den ganzen Tag arbeiten müssen, damit sie genug zu essen haben, dann haben sie jetzt Zeit, neue Belagerungstürme und Steinschleudern zu bauen! Also dürfen wir nicht den halben Tag mit Spielen und Geschichtenerzählen vertrödeln: Mit unserem neuen Pflaumenentkerner haben wir jetzt Zeit genug, um an unsere Verteidigung zu denken. Statt dass wir alle nur den halben Tag arbeiten, sollte lieber die eine Hälfte von uns den ganzen Tag arbeiten, und die andere Hälfte sollte Steinschleudern bauen und exerzieren. Denn jetzt können wir es uns endlich leisten, eine ständige Armee zu erhalten. Nur so können wir uns davor schützen, dass die Birnenleute wieder über uns herfallen, und uns am Ende noch versklaven!"

Und so hätte beinahe wieder alles von vorne angefangen, wenn nicht. . .

 . . . wenn nicht die Frau Zwetschkenstiel aufgestanden wäre, und vor aller Augen dem Herrn Kern ein runtergehaut hätte. Da setzte er sich ganz still hin und sagte nie wieder ein Wort.

Als die Soldaten kamen

Als die Soldaten kamen, versteckten wir uns in einer Höhle draußen in der Wüste. Wir hatten einen Sack aus Ziegenleder gefüllt mit Wasser, ein paar Laibe Brot und ein paar Feigen. Das war alles. Unsere zwei Ziegen hatten wir zurückgelassen. Ich war traurig, denn Großvater sagte, dass wir sie nicht wiedersehen würden. Die Soldaten würden sie töten und essen. Mutter weinte leise, aber sie ließ das Baby an ihrer Brust saugen, damit es nicht zu schreien anfing und unser Versteck verriet. Ich wusste, dass ich nicht weinen durfte, denn ich war ja schon ein großes Mädchen und Großvater sagte, dass ich alles verstehe wie eine Erwachsene. Ich durfte ganz leise mit Großvater sprechen. Nur gelegentlich hörte er ein Geräusch von draußen und dann musste ich still sein, damit er besser horchen konnte. "Warum werden die Soldaten unsere Ziegen töten?" fragte ich Großvater. "Mögen sie keine Milch?"

"Ach, die mögen schon Milch, aber Fleisch mögen sie lieber. Und vor allem wollen sie nicht, dass die Soldaten von König Babak die Ziegen essen."

"Ist das nicht unser König, der König Babak?"

"So sagt man, ja."

"Hätten wir da nicht die Ziegen mitnehmen sollen, um sie für die Soldaten von König Babak zu retten?"

"Die Ziegen hätten uns verraten. Und es ist gleich, ob die Soldaten von König Babak oder die Soldaten von König Ubuk sie essen."

"Aber wenn König Ubuk den Krieg gewinnt, werden uns seine Soldaten dann nicht töten?"

"Nein. Wenn der Krieg vorbei ist, werden wir Tribut an König Ubuk zahlen müssen statt an König Babak. Das ist der ganze Unterschied."

"Aber ist Babak nicht unser rechtmäßiger König und der Vater des Landes? Ist er nicht der Vater von uns allen?"

"Das sagen die Priester, ja. Aber vor ihm war Erek unser König und der Vater des Landes, und wir mussten im Tempel für seine Gesundheit beten. Dann hatten Babak und Erek Streit, weil Erek die Ehre von Babak besudelt hatte, und Babaks Armee besiegte Erek und Erek wurde getötet und Babak eroberte sein Land."

"Hat nicht auch König Ubuk König Babaks Ehre besudelt?"

"So heißt es, ja."

"War dann nicht Babak im Recht, für seine Ehre zu kämpfen?"

"Könige tun so etwas, ja."

"Kämpfst du nicht um deine Ehre, Großvater?"

"Wir Bauern kämpfen nicht um unsere Ehre. Wenn der Priester mich ein faules Schwein nennt, weil ich ihm nicht genug Korn zum Speicher bringe, dann kann ich meine Ehre nicht verteidigen. Die Priester würden mich zu Tode peitschen lassen. Aber bei Königen ist das etwas anderes. Könige müssen lernen, ihre Ehre zu verteidigen."

"Warum die Könige und die Bauern nicht?"

"Ach, wenn ein König die Ehre von einem anderen König besudelt, dann ruft der seine Armee zusammen und kämpft mit dem anderen König. Manchmal verliert er sein Leben in der Schlacht. Und manchmal wird der andere König getötet und der Sieger nimmt sich das Land des Verlierers und fügt es seinem eigenen Reich hinzu. Der Verlierer erfährt nicht, dass man auch sterben kann, wenn man seine Ehre verteidigt, weil er nämlich tot ist. Und der Sieger lernt, dass es sich lohnt, seine Ehre zu verteidigen. Als mein Großvater jung war, gab es in diesem Tal dreißig kleine Königreiche. Jetzt gibt es fünf große."

"Weil die Könige Streit miteinander hatten? Weil ihre Ehre befleckt worden war?"

"Es war immer irgendwas von der Art."

"Und war es immer schon so? Hat es immer schon Kriege gegeben, damit die Königreiche größer und größer werden können?"

"Ich weiß es nicht", sagte Großvater. "Mein Großvater hat gesagt, dass einmal eine Zeit war, wo es keine Könige gegeben hat, nur Bauern. Er hat gesagt, dass sie in Dörfern zusammen gelebt haben. Und dass sie von Krieg nichts gewusst haben. Ich kann mir vorstellen, dass es wahr ist, was Großvater gesagt hat. Warum sollten sie mit dem Nachbardorf kämpfen? Warum sollten sie ihnen ihr Land wegnehmen wollen? Ein Bauer kann nur so und so viel Land bebauen. Er hat keine Verwendung für mehr Land, als er mit seiner Familie beackern kann. Nun ja, vielleicht hatten sie viele Kinder und nach einiger Zeit gab es mehr Familien, die Land brauchten. Würden sie dann einen Kampf beginnen, um jemand anderem das Land wegzunehmen? Ich glaube nicht. Ich glaube, sie würden lieber das Land, das hatten, aufteilen, als einen Kampf zu beginnen und zu riskieren getötet zu werden. Und sogar, wenn sie einen Kampf beginnen würden, dann würden sie aufhören, wenn sie genug Land erobert hätten. Ihrer Gier wäre immer eine Schranke gesetzt, weil sie das Land selbst bebauen mussten. Aber die Gier eines Königs ist ohne Ende."

"Ist denn ein König ein anderes Wesen als ein Bauer?" sagte ich. "Ist es vielleicht eine andere Tierart, so wie Ziegen keine Schafe sind?"

"Ich glaube nicht", sagte Großvater. "Wenn du den Sohn eines Bauern nimmst und ihn als einen König aufziehst, dann wird er alle die Dinge tun, die Könige tun."

"Warum sind dann Könige anders?"

"Weil die Art, wie sie ihren Lebensunterhalt verdienen, eine andere ist. Mein Großvater sagte, dass es früher, in der alten Zeit, außer Bauern auch noch Jäger gegeben hat. Die haben auch nicht um Land gekämpft gegen einander. Jede Gruppe hatte ihr Jagdgebiet, und sie hatten keine Verwendung für größere Jagdgründe. Aber eines Tages wurde das Wetter trockener und die Wälder wurden kleiner und die Tiere in den Wäldern wurden weniger. Und die Jäger entdeckten ein neues Wild. Sie entdeckten die Speicher der Bauern, die gefüllt waren mit Saatgut für das nächste Jahr, und ihre Ställe mit Ziegen und Schafen und Schweinen. Sie stahlen von den Bauern und wenn die Bauern sich wehrten, töteten sie sie. Die Jäger konnten besser mit Waffen umgehen als die Bauern, sagte mein Großvater, weil sie sie jeden Tag benutzten. Und bald entdeckten sie, dass es für sie besser war, nicht alle Bauern umzubringen und ihnen nicht alles wegzunehmen. Denn wenn die Bauern überlebten und etwas Saatgut und etwas Futter übrig behielten, dann pflanzten sie wieder Korn und zogen wieder Tiere auf und im nächsten Jahr konnte man sie wieder ausrauben. Und ein paar schlaue Häuptlinge schlossen Verträge ab mit den Bauern und sagten ihnen: Wenn ihr mir jedes Jahr so und so viel Korn und so und so viel Vieh als Tribut gebt, dann beschütze ich euch gegen andere Räuber. So wurden die Jäger zu Kriegern und ihre Häuptlinge zu Königen.

Und für einen König ist Landbesitz ein anderes Ding als für einen Bauern. Weil ein König nämlich nicht selber arbeitet auf seinem Land. Er hat Bauern, die arbeiten und ihm Korn und Butter und Fleisch und Wolle und andere Dinge abliefern. Und der König isst und gebraucht das alles nicht selber. Er ernährt und kleidet damit seine Soldaten und Priester, die Schmiede, die ihm die Schwerter machen und die Bogner, die Pfeil und Bogen machen für die Soldaten und die Baumeister und Maurer, die Paläste und Tempel bauen. Und das alles gebraucht er, um mehr Land zu erobern, damit er mehr Tribut bekommt, damit er noch mehr Soldaten beschäftigen kann, die ihm noch mehr Land erobern und so weiter."

"Aber wenn ein König nun einmal findet, dass er genug Land hat und genug Bauern, die für ihn und seine Soldaten arbeiten?"

"Dann muss er trotzdem fürchten, dass ein anderer König, der mehr Bauern und mehr Soldaten hat, ihm sein Land wegnimmt. Darum darf er nie aufhören, sein Reich und seine Armee zu vergrößern."

"Also würde es keine Kriege geben, wenn es keine Könige gäbe?" fragte ich.

"Wenn es keine Leute gäbe, die von anderer Leute Arbeit leben, dann würde das Kämpfen wenigstens nicht so endlos sein wie es jetzt ist. Vielleicht würde es keine Paläste geben und die Tempel wären kleiner und es würde nicht so viele Künstler geben, die so wunderbaren Schmuck und so herrliche Statuen machen, weil niemand sich so etwas leisten könnte. Die Teppiche wäre weniger bunt, aber dafür hätte jeder einen um darauf zu schlafen statt auf dem nackten Boden. Vielleicht würde es hie und da Streit und Kampf geben, aber die würden beendet werden."

"Also wird das Kämpfen nie mehr aufhören?" fragte ich Großvater.

"Vielleicht nach vielen tausend Jahren, wenn die ganze Welt ein einziges Reich geworden ist."

"Aber können wir nicht so leben wie früher, als es noch keine Könige gab?"

"Ich glaube nicht", sagte Großvater, "wie könnte das sein? Die Soldaten der Könige haben Schwerter und Bogen und Pfeile und was haben wir?"

"Aber wenn alle Bauern auf der Welt sich einigen würden, keine Könige und Soldaten mehr zu ernähren?"

"Das ist nicht möglich", sagte Großvater. "Wer würde Boten zu ihnen allen schicken?"

Als die Soldaten abgezogen waren, war das Dorf leer. Alles Vieh war getötet oder weggenommen worden, alles Korn war aus den Speichern geholt und verbrannt worden. Sogar unsere Hacken und Sicheln waren fort. Großvater zeigte uns, wie wir im Fluss Fische fangen konnten, und welche wilden Kräuter wir kochen konnten, und irgendwie kamen wir durch die Trockenzeit. Als der Regen kam, wuchs etwas Korn auf den Feldern aus Samen, die bei der Ernte zu Boden gefallen waren, und wir buken keinen einzigen Laib Brot, sondern hoben alles Korn für die nächste Aussaat auf. Schritt für Schritt erweckten wir die Felder wieder zum Leben. Mutter starb und dann starb Großvater auch und mein kleiner Bruder heiratete ein Mädchen aus dem Nachbardorf und sie bekamen ein Kind.

Und eines Tages kamen die Soldaten.

Zwei Kämpfer

Zwei kämpften einen schweren Kampf miteinander. Der eine war groß, der andere war dick, der eine war schwer, der andere zäh, der eine war stark, der andere war wild.

Der Starke haute dem Wilden die Nase ein. Da spürte er: Der hat ja eine Nase wie ich.

Der Wilde zerbrach dem Starken die Rippen. Da spürte er: Diese Rippen knacken ja wie die meinen.

Der Starke bohrte dem Wilden ein Auge aus. Da spürte er: Das Auge ist ja weich und empfindlich wie meines.

Der Wilde trat den Starken in den Bauch. Da spürte er: Dieser Bauch gibt ja nach wie der meine.

Der Starke drückte dem Wilden den Hals zu. Da spürte er: Der braucht Luft zum Atmen wie ich.

Der Wilde presste dem Starken die Faust in die Herzgrube. Da merkte er: Dem schlägt ja ein Herz wie das meine. 

Als die beiden hinfielen und nicht mehr hochkommen konnten, da dachten sie beide: "Der ist ja wie ich, der da." Aber das nützte ihnen nicht mehr viel.

Mann gegen Mann

Als Herr Balaban Rekrut sein musste, erklärte der Ausbildner einmal: "So, heute üben wir den Kampf Mann gegen Mann. Das ist im Ernstfall sehr wichtig für euch!"

"Ach", meldete sich Herr Balaban, "wenn es wirklich im Ernstfall zum Kampf Mann gegen Mann kommt - könnten Sie mir meinen Mann dann zeigen? Vielleicht kann ich mich mit ihm ja gütlich einigen?"

Der Krieg auf dem Mars

Der große Krieg auf dem Mars war zu Ende gegangen.
Müde und traurig schleppten sich die hellrosa Gnuffs nach Hause. "Nie wieder einen Krieg!" stöhnten sie. Sie hatten den Krieg verloren.

Müde und traurig schleppten sich auch die blasslila Moffer nach Hause. "Nie wieder einen Krieg!" stöhnten sie. Dabei hatten sie den Krieg gewonnen.
Aber auf dem Schlachtfeld lagen fast genauso viele tote Moffer wie tote Gnuffs, und schrecklich viel grünes Blut war geflossen.
Der Großpräsident der Gnuffs und der Hochkönig der Moffer trafen sich an dem Grenzfluss und schlossen einen Vertrag miteinander ab: "Nie wieder soll es Krieg zwischen den Gnuffs und den Moffern geben", versprachen sie einander.
Und in beiden Ländern wurden große Friedensfeiern abgehalten.
"Schicken wir unseren General in Pension! " schrien die Gnuffs auf ihrer Feier.

"Geben wir unserem Marschall die Kündigung!" riefen die Moffer bei ihrem Fest.
"Die Soldaten sollen Erdbeeren pflanzen!" schrien die Gnuffs.

"Die Soldaten können jetzt Hosen nähen!" riefen die Moffer.
Doch da sagte der General der Gnuffs: "So geht das nicht. Wenn wir keinen General und keine Soldaten mehr haben, dann fallen die Moffer gleich wieder über uns her. Wir müssen eine starke, wachsame Armee haben, damit es nie wieder einen Krieg geben kann!"

Und der Marschall der Moffer sagte: "So geht das nicht. Wenn die Gnuffs sehen, dass wir keine Armee mehr haben, werden sie sich doch sofort für den verlorenen Krieg rächen. Also brauchen wir Soldaten und einen Marschall."
"Na ja, stimmt ja wohl", grummelten die Gnuffs.

"Wo er recht hat, hat er recht", mümmelten die Moffer.
Und dann gingen alle nach Hause und an ihre Arbeit, die Gnuffs in ihre Türme und die Moffer in ihre Höhlen.
Und der General der Gnuffs sagte zu sich: "Ich will nicht schon wieder einen Krieg, aber wenn ich nicht zeige, dass ich ein tüchtiger General bin, werde ich doch noch in Pension geschickt." Und er sagte zum Großpräsidenten: "Unsere Armee braucht mehr Schwerter, damit wir nicht wieder überfallen werden können. Verlangen Sie, bitte, höhere Steuern, damit wir von den Schmieden mehr Schwerter kaufen können."
Und der Großpräsident machte das.
Und die Schmiede sagten sich: "Krieg wollen wir keinen mehr, aber wenn wir viele Schwerter verkaufen, können wir uns für unsere Kinder die teuren Schulen leisten. "
Und die Gesellen in den Schmieden sagten sich: "Krieg wollen wir keinen mehr, aber wenn wir sagen, wir wollen die Schwerter nicht machen, werfen uns unsere Chefs hinaus, und dann haben unsere Kinder nichts zu essen."


Und der Marschall der Moffer sagte zu sich: "Ich will Frieden, aber wenn ich nicht zeige, dass ich ein tüchtiger Marschall bin, werde ich vielleicht doch gekündigt." Und er sagte zum Hochkönig der Moffer: "Ich habe gehört, dass die Gnuffs für ihre Armee Schwerter kaufen. Lassen Sie, bitte, die Steuern erhöhen, damit wir mehr Soldaten zur Armee holen können."
Und der Hochkönig erhöhte die Steuern, und es wurden mehr Soldaten zur Armee geholt.
Und die Bauern der Moffer sagten zu sich: "Wir wollen Frieden, aber wenn wir der Armee keine Kartoffeln verkaufen, können wir die neuen Steuern nicht bezahlen."
Und die Schneider sagten: "Wir wollen Frieden. Aber je mehr Soldaten, umso mehr Uniformen können wir verkaufen."
Und die Speermacher sagten: "Wir wollen Frieden, aber je mehr Soldaten, umso mehr Speere können wir verkaufen."
Da geschah es, dass bei den Gnuffs ein Erfinder ein Gift entdeckte, ein schrecklich starkes Gift. Es war aber für Gnuffs völlig unschädlich, nur für Moffer war es tödlich.
"Ich will niemandem etwas Böses tun", sagte der Erfinder zu sich, "aber wenn ich meine Erfindungen für mich behalte, kann ich meine Rechnung bei der Milchfrau nicht bezahlen."
Und er schrieb in einem Buch, wie man das Gift herstellen kann.


Da geschah es, dass bei den Moffern ein Professor entdeckte, wie man eine Bombe bauen kann, die alles über der Erde vernichten konnte, aber für die Moffer nicht gefährlich war, weil die Moffer in Höhlen lebten.
"Ich wünsche niemandem etwas Übles", sagte der Professor zu sich, "aber ich muss meine Entdeckung bekannt machen, sonst glauben die Leute, dass ich von meiner Wissenschaft nichts verstehe."
Und er schrieb in einem Buch, wie man die Bombe bauen kann.
Als der Marschall der Moffer davon hörte, sagte er zum Hochkönig: "Diese Bombe müssen wir wirklich bauen, denn ich habe gehört, dass die Gnuffs ein schreckliches Gift gegen uns haben!"
Und der General der Gnuffs sagte zum Großpräsidenten: "Dieses Gift müssen wir wirklich erzeugen lassen, denn ich habe gehört, dass die Moffer eine gefährliche Bombe gegen uns haben."
Und so wurde das Gift gemischt...

...und die Bombe wurde gebaut.
Und die Gnuffs bauten eine riesige Giftspritze, die das Gift zu den Moffern spritzen konnte.

Und die Moffer bauten einen riesigen Ballon, der die Bombe zu den Gnuffs bringen konnte.
Da sagte der Großpräsident der Gnuffs bei einer Ansprache: "Jetzt kann es nie mehr Krieg geben, denn wir wollen den Frieden, und die Moffer werden sich niemals trauen, auf uns loszugehen, weil wir das schreckliche Gift haben."

Und der Hochkönig der Moffer sagte bei einer Ansprache: "Jetzt muss es immer Frieden gehen, denn wir wollen keinen Krieg, und die Gnuffs werden es niemals wagen, uns anzugreifen, weil wir die fürchterliche Bombe haben."
Eines Tages sagten die Schmiede der Gnuffs: "Wir haben nicht mehr genug Eisen für alle die Schwerter und Pflüge und Sensen und Wagen, die wir bauen könnten. Wir müssen zur Eiseninsel fahren, Eisen holen!"

Und die Schmiede der Moffer sagten: "Wir brauchen mehr Eisen für unsere Speere und Wagen und Pflüge und Sensen. Wir müssen Eisen holen von der Eiseninsel!"
Da schickten die Gnuffs ein Schiff zur Eiseninsel...

...und die Moffer schickten auch ein Schiff zur Eiseninsel.
Als die Schiffe zurückkamen, berichteten die Seeleute zu Hause, dass auch die anderen Eisen von der Eiseninsel geholt hatten.
"Die Moffer nehmen uns das Eisen weg!" schrieb eine Zeitung der Gnuffs.

"Die Gnuffs wollen alles Eisen für sich!" berichtete eine Zeitung der Moffer.
 
Das war vielleicht etwas übertrieben, aber jeder weiß, dass Zeitungen, die aufregende Sachen schreiben, sich besser verkaufen als solche, die schreiben, es ist eh alles nicht so schlimm und man sollte vielleicht erst einmal nachsehen, ob nicht sowieso genug Eisen für alle da sei. Und die Zeitungsleute wollen schließlich Geld verdienen so wie andere Leute auch.

Da kriegten die Gnuffs wieder Angst vor den Moffern, und die Moffer kriegten Angst vor den Gnuffs.
"Wir müssen die Eiseninsel für uns haben", sagten welche von den Gnuffs, "sonst kann es keinen Frieden geben."

"Die Eiseninsel muss uns gehören", sagten welche von den Moffern, "sonst gibt es wieder Krieg!"
"Wenn wir kein Eisen für Pflüge haben, haben wir nichts zu essen", sagten welche von den Gnuffs, "und dann kann uns auch das schreckliche Gift nicht helfen!"

"Wenn wir kein Eisen haben, müssen wir hungern", sagten welche von den Moffern, "und dann hilft uns auch die große Bombe nichts."
Und die Gnuffs schickten ein Kriegsschiff zur Eiseninsel.

Und die Moffer schickten ein Kriegsschiff zur Eiseninsel.
Und als der Kampf unentschieden war...
...schickten die Gnuffs noch ein Kriegsschiff...

...und die Moffer schickten noch ein Kriegsschiff.
"Wir dürfen sie keine Kriegsschiffe bauen lassen!" sagte der General der Gnuffs und griff mit seinen Truppen die Schiffswerft der Moffer an.

"Wir müssen verhindern, dass sie Schiffe bauen", sagte der Marschall der Moffer und griff mit seinen Truppen die Schiffswerft der Gnuffs an.
"Sie haben uns überfallen!" schrien die Gnuffs.

"Sie haben uns angegriffen!" schrien die Moffer.
"Wir wollten den Frieden", sagte der General der Gnuffs, "aber jetzt hilft nichts mehr. Wir müssen das Gift auf sie spritzen, bevor sie die Bombe auf uns werfen! "

"Wir haben den Krieg nicht gewollt!" sagte der Marschall der Moffer, "aber jetzt ist es zu spät. Wir müssen die Bombe auf sie werfen, bevor sie das Gift auf uns spritzen!"
Und die Giftspritze wurde gefüllt, und der große Ballon wurde gestartet.
"Jetzt ist es aus mit ihnen!" sagten die Gnuffs.

"Jetzt ist es aus mit ihnen!" sagten die Moffer.
"Und mit uns auch!" sagten die Gnuffs, als sie den Ballon sich langsam erheben sahen.

"Und mit uns auch!" sagten die Moffer, als sie die Spritze am Horizont auftauchen sahen.
"Ich hätte vielleicht doch das Gift nicht erfinden sollen!" sagte der Erfinder.

"Ich hätte vielleicht doch die Bombe nicht erfinden sollen!" sagte der Professor.
"Wir hätten vielleicht doch keine Schwerter machen sollen!" sagten die Schmiede.

"Wir hätten vielleicht doch keine Speere machen sollen!" sagten die Speermacher.
"Wir hätten vielleicht doch keine Uniformen schneidern sollen!" sagten die Schneider.

"Wir hätten vielleicht doch keine Kartoffeln liefern sollen", sagten die Bauern.
"Wir hätten vielleicht doch nicht so übertreiben sollen", sagten die Zeitungsschreiber.

"Wir hätten uns vielleicht doch mehr an die Wahrheit halten sollen", sagten die Zeitschriftenredakteure.
"Wir hätten vielleicht doch keine Soldaten werden sollen", sagten die Soldaten.
"Wir hätten vielleicht doch unseren General in Pension schicken sollen!" sagten die Gnuffs.

"Wir hätten vielleicht doch unseren Marschall kündigen sollen!" sagten die Moffer.
Und hier wäre die Geschichte fast schon zu Ende gewesen.
Doch da sagte ein Gnuff zu seinen Freunden: "Uns können wir nicht mehr retten. Aber die Moffer - sie waren auch nicht blöder und gemeiner als wir." Und sie kletterten auf die Giftspritze und warfen sie um, in dem Moment, bevor sie losging.

Und ein paar Moffer sagten zueinander: "Jetzt gehen wir drauf wegen unserer Blödheit. Aber die Gnuffs sollen wenigstens wissen, dass es auch ein paar anständige Moffer gegeben hat." Und sie hängten sich an die Seile und kletterten auf den Ballon und ließen die Bombe explodieren, bevor sie über den Gnuffs war.
"Moffer haben uns gerettet!" sagten erstaunt die Gnuffs, als sie merkten, dass die Bombe sie verschonte.

"Gnuffs haben sich für uns geopfert!" flüsterten ganz baff die Moffer, als sie merkten, dass das Gift sie nicht traf.
Und dann ließen alle die Schwerter und Speere aus den Händen fallen, setzten sich auf den Boden und stöhnten: "Das ist ja gerade noch einmal gutgegangen." Und viele fingen vor Erleichterung zu weinen an.Dann schickten sie den General und den Marschall in Pension, auch den Großpräsidenten und den Hochkönig und sagten: "Diesmal müssen wir aber schlauer sein!"

Der Krieg zwischen Sonne und Mond - und wie er beendet wurde

Diese Geschichte beginnt damit, dass ein Mädchen einen Jungen kennenlernte. Nun ja, es gibt Millionen solcher Geschichten, denn dass ein Mädchen und ein Junge einander kennenlernen, ist mindestens schon 50 Milliarden Mal passiert, seit es Menschen auf der Erde gibt. Diese Geschichte ist auch schon eine Weile her, sie ist zu einer Zeit geschehen, als die Menschen noch in Dörfern lebten und ihre Äcker mit der Hacke bearbeiteten.

Der Junge und das Mädchen lebten in zwei verschiedenen Döfern an gegenüberliegenden Seiten eines Flusses. Die Dörfer hießen Tralong und Namkah. „Tralong“ bedeutete „Haus der Sonne“ und lag am westlichen Ufer des Flusses. „Namkah“ bedeutete „Heimat des Mondes“ und lag am östlichen Ufer. Der Fluss hieß einfach nur „Der Fluss“, denn es gab weit und breit keinen anderen, darum brauchte man auch keinen besonderen Namen für ihn. Es gab auch weit und breit keine anderen Dörfer, denn der Fluss kam aus einem wilden, unzugänglichen Gebirge und versickerte bald in der Wüste. So gab es nur eine kurze Strecke, entlang der die Menschen ihre Felder bewässern konnten. Nur selten kam die Karawane eines Händlers vorbei, bei dem die Menschen aus den beiden Dörfern Gewürze und Zucker und Metallgegenstände eintauschten. Sie bezahlten dafür mit Salz, das sie aus der Wüste holten. Geld brauchten die Bewohner der beiden Dörfer nicht, denn fast alles, was sie brauchten, erzeugten die Familien selbst. Aus der Wolle ihrer Schafe machten sie Kleider und Decken und Teppiche, aus der Schafsmilch machten sie Joghurt und Käse, auf den Feldern bauten sie Hirse und verschiedene Gemüse an, ihre Häuser bauten sie aus Lehm, den sie aus dem Fluss gruben. Von den Händlern hatten sie gehört, dass es anderswo Königreiche gab, Städte mit Tempeln und Märkten, wo wenige Menschen in prächtigen Häusern lebten und viele in armseligen Hütten. Das kam ihnen seltsam vor, denn wenn alle Mitglieder der Familie Platz zum Schlafen hatten, dann war ein Haus doch wohl groß genug.

Bahar und Navid trafen einander eines Abends am Fluss. Gewöhnlich kamen am Morgen und am Abend die Mädchen zum Wasserholen oberhalb der beiden Dörfer an den Fluss. Das war dann eine Gelegenheit zum Plaudern und Tratschen und die Mädchen vom anderen Ufer ein bisschen aufzuziehen. Meistens gab es viel Gelächter und Geschrei und Gespritze. An diesem Abend aber hatte Bahar noch ein Lamm suchen müssen, das verloren gegangen war, darum kam sie erst, als die anderen Mädchen schon wieder zu Hause waren. Navid war zum Wasserholen gekommen, weil seine beiden Schwestern krank waren. Er wollte sich nicht unter die kichernden und kreischenden Mädchen mischen, darum hatte er gewartet, bis sie vom Fluss zurückkamen, bevor er aufbrach. So kamen die beiden zum Fluss, jedes von einer anderen Seite, als die Sonne gerade untergehen wollte. Bahar, die von Osten kam, sah im orangen Licht der untergehenden Sonne noch schöner aus, als sie sowieso schon war. Navid, der von Westen kam, erschien nur als schwarzer Schatten, der von goldenem Licht umflossen war. Verzaubert blieben die beiden stehen, jedes an seinem Ufer, und schauten einander an. Als die Sonne untergegangen war und der Himmel sich von golden zu grau verfärbte, war der Zauber vorbei, aber da war es schon geschehen, sie hatten sich in einander verliebt. Sie waren aber beide sehr schüchtern und sagten kein Wort. Beide schöpften ihre Krüge voll mit Wasser und dann machten sie sich wieder auf den Heimweg. Doch als Navid sich noch einmal nach Bahar umdrehte, da hatte auch Bahar sich nach ihm umgedreht, und so wussten sie beide Bescheid. Also trafen sie einander nun jeden Abend am Fluss. Einmal watete Navid zu Bahar hinüber und das andere Mal Bahar zu Navid. Sie erzählten einander von ihren Familien und von ihrer Arbeit, sie berichteten einander, dass eine Kuh ein Kälbchen bekommen hatte oder dass jemand draußen in der Wüste einen Löwen gesehen hatte, und sie unterhielten sich über die wundersamen Geschichten, die die Händler aus fernen Gegenden mitgebracht hatten. Und manchmal saßen sie nur still nebeneinander und hielten sich an den Händen. Und eines Tages sagte Navid zu Bahar: „Ich will dich heiraten!“

Und Bahar sagte: „Ich will dich auch heiraten!“
Und Navid sagte: „Aber deine Familie wird darüber nicht glücklich sein!“
„Ach was“, sagte Bahar, „das wird schon gehen.“

Es war nämlich so, dass die Menschen von Tralong und die von Namkah verschiedene Religionen hatten. Die Leute von Tralong verehrten die Sonne. Sie hatten einen kleinen Tempel, in dem eine goldene Sonnenscheibe hing. Jeden Sonntag versammelten sie sich zu Mittag im Tempel, um der Sonne zu danken. „Wir danken dir für das Licht, das die Pflanzen wachsen lässt und das uns erlaubt, die Welt zu sehen! Wir danken dir für die Wärme, die du spendest! Wir danken dir für das Feuer, mit dem wir unser Essen zubereiten! Sonne, wir danken dir!“

Die Leute aber von Namkah verehrten den Mond. In ihrem Tempel hing eine silberne Scheibe, die den Mond darstellte, und jeden Montag um Mitternacht versammelten sie sich, um dem Mond zu danken: „Wir danken dir für die Kühle der Nacht, in der wir uns ausruhen können! Wir danken dir für den Tau, der auf unsere Felder und Viehweiden fällt! Wir danken dir für den Regen in den Bergen und den Fluss, der das Wasser zu uns bringt!“

Die Leute, die die Sonne anbeteten, machten sich lustig über die Leute, den den Mond verehrten. Sie nannten sie „Schlafwandler“, weil sie ihre Gottesdienste bei Nacht abhielten. Nur die alte Frau Pema nahm die Dinge ernster: „Diese armen Sünder wandeln in finsterer Unwissenheit!“, sagte sie fromm. „Wir müssen ihnen helfen, das Licht der Wahrheit zu sehen!“

Aber die meisten sagten: „Ist doch egal, wenn sie in der Höller schmoren. Lasst sie in Ruhe, solange sie uns in Ruhe lassen!“

Und die Leute, die den Mond anbeteten, spotteten über die Leute, die die Sonne verehrten. Sie nannten sie „Feuerfresser“, weil sie auch am heißesten Tag zur heißesten Zeit ihre Feuer zu Ehren der Sonne anzündeten. Nur der alte Herr Tashi wütete jeden Sonntag und schrie über den Fluss: „Bereut, ihr Sünder, oder verbrennt in eurem eigenen Feuer!“
Aber die anderen sagte: „Beruhige dich, Opa! Sie sind ein bisschen sonderlich, ja, aber sie tun doch niemandem etwas!“

Und so überlegten Bahar und Navid, wie sie es ihren Familien am besten beibringen sollten, dass sie heiraten wollten, und was die wohl dazu sagen würden.

In diesem Jahr war, so schien es, in den Bergen der Regen ausgeblieben. Der Fluss hatte immer weniger Wasser. Die Menschen an beiden Ufern wurden unruhig. Bald würde es nicht genug Wasser geben, um die Felder zu bewässern und die Schafe und Ziegen zu tränken. Wenn die Menschen ihre Felder nicht bewässern konnten, würde es keine Ernte geben und im nächsten Jahr würden sie hungern. Wenn ihre Schafe und Ziegen nicht genug zu trinken bekamen, würde es keine Milch und keinen Käse geben. Am Ende müssten sie die Tiere schlachten und essen, und was dann?

Manche Leute fragten sich, was wohl die Ursache für die Trockenheit war. Ja, in den Bergen war der Regen ausgeblieben. Aber warum war er ausgeblieben?

Frau Pema hatte eine Erklärung: „Die Sonne bestraft die Schlafwandler, weil sie nicht an sie glauben!“

„Na ja“, sagten einige, „aber warum müssen auch wir leiden?“

„Unsere Mutter, die Sonne, bestraft uns, weil wir den armen Sündern drüben nicht helfen, die Wahrheit zu erkennen!“

Auf der anderen Seite des Flusses predigte der alte Herr Tashi auf dem Versammlungsplatz: „Unser Herr, der Mond, ist erzürnt, weil die Ungläubigen da drüben ihn mit ihren sündhaften Feuern beleidigen!“

Herr Tenzin, der Bürgermeister, sagte: „Beruhige dich! Die Zeiten sind schwierig genug und wir wollen nicht auch noch Ärger mit unseren Nachbarn haben!“

Aber der junge Herr Dorji, der selber gerne Bürgermeister geworden wäre, dachte: „Wenn es einen Kampf gibt, dann kann ich der Anführer sein. Der alte Tenzin ist schon zu krank und schwach für sowas!“ Und er rief laut: „Richtig! Tashi hat recht! Unser Vater, der Mond, wird das Wasser so lange zurückhalten, bis wir aufstehen und die Ungläubigen bekämpfen! Kommt, folgt den Worten unseres Propheten!“

Dorji verneigte sich tief vor dem alten Tashi. Der war darüber sehr geschmeichelt und hielt gleich noch eine Brandrede gegen die Ungläubigen.

Von denen, die zuhörten, dachten einige: „Hm, vielleicht hat der alte Mann recht? Und Dorji ist auch seiner Meinung. Und nennt ihn sogar unseren Propheten.“ Und sie schrien: „Jawohl, nieder mit den Ungläubigen!“

Also wurde beschlossen, dass man am Montag, gleich nach der Mitternachtsandacht, über den Fluss gehen und den Sonnentempel zerstören würde, damit die Ungläubigen nicht länger den Mond beleidigen konnten.

Und einige gingen schon mal und machten die Gräben, die das Wasser vom Fluss auf ihre Felder leiteten, tiefer, damit sie mehr von dem kostbaren Nass bekamen. Das war nur gerecht, denn die Feuerfresser hatten ja die Dürre verschuldet.

Als die Leute am anderen Ufer das merkten, wurden sie sehr zornig: „Die Schlafwandler stehlen unser Wasser!“

Und die alte Frau Pema sagte fromm: „Jetzt sind diese armen Seelen endgültig verwirrt und von Dämonen besessen. Wir müssen ihnen helfen, ihre Seelen zu retten!“

Und Herr Puran schrie: „Wir müssen ihren gotteslästerlichen Tempel niederreißen und mit den Trümmern ihre Wassergräben zuschütten, damit sie lernen, was die göttliche Gerechtigkeit verlangt!“

„Es ist zu ihrem eigenen Besten“, sagte Frau Pema milde. „Sobald sie die Wahrheit erkennen, wird Mutter Sonne ihnen vergeben und Wasser wird fließen für alle!“

Bahar und Navid konnten einander nur mehr selten treffen. Nur in mondlosen Nächten wagten sie es, zum Fluss zu kommen. Denn die beiden Dörfer lagen jetzt im Kampf miteinander. Sie versuchten, einander ihre Tempel zu zerstören, und wenn ihnen eine Ziege oder ein Schaf über den Weg lief, betrachteten sie das Tier als ihre rechtmäßige Beute. Im Namen von Vater Mond oder Mutter Sonne plünderten sie die Vorratsscheunen der anderen und blockierten ihnen die Wassergräben.

„Wann wird dieser Kampf enden?“ seufzte Bahar.

„Nicht bevor es Tote gegeben hat“, sagte Navid. „Sie werden solange kämpfen, bis die einen die anderen umgebracht haben oder verjagt. Erst dann wird es genug Wasser für die Sieger geben. Oder bis jede Seite die Hälfte der anderen umgebracht hat. Auch dann wird es genug Wasser geben für die, die übrig bleiben.“

„Aber die Feindschaft wird weiter bestehen“, sagte Bahar, „denn sie werden nicht vergeben können, was sie einander angetan haben!“

„Das stimmt“, sagte Navid traurig.

Doch eines Nachts, als sie wieder einmal beisammen sein konnten, sagte Bahar: „Ich habe nachgedacht.“
„Über uns?“, fragte Navid.

„Über das Wasser! Hast du jemals bemerkt, dass sehr viel Wasser aus den Gräben verdunstet, bevor es die Felder erreicht? Die Sonne trocknet die Gräben aus, bevor das Wasser zu den letztenn Feldern kommt!“

„Ja“, sagte Navid, „das ist nur natürlich!“

„Aber wenn das Wasser durch Röhren laufen würde statt durch offene Gräben, dann würde es nicht verdunsten! Wenn ich Suppe koche, dann lege ich einen Deckel auf den Topf, damit das Wasser nicht verloren geht!“

„Du hast recht“, sagte Navid. „Wir könnten Röhren aus gebranntem Lehm machen, mit kleinen Löchern darin, so dass gerade genug herauströpfelt um die Felder zu bewässern!“

Also ging ein jedes von ihnen heim und erzählte den Dorfältesten von dieser Idee. Und in beiden Dörfern begannen die Leute, Röhren aus Ton zu machen und fürs erste einmal hatten sie keine Zeit zu kämpfen. Und als die Röhren ihren Dienst erfüllten, zeigte sich, dass nun Wasser genug da war für beide Dörfer. Herr Tashi und Herr Dorji forderten ihre Kameraden auf, nun den Kampf weiter zu führen. Doch die Leute sagten ihnen: „Wir müssen uns um unsere Felder kümmern, wir haben schon genug Zeit verloren. Wenn Vater Mond die Ungläubigen bestrafen will, wird er das schon selber tun!“

Herr Puran auf der anderen Seite des Flusses bekam mehr oder weniger dieselben Antworten. Und Frau Pema sagte fromm: „Mutter Sonne hat noch einmal Geduld mit den Sündern gezeigt. Aber sie hat ein langes Gedächtnis, und der Tag des Gerichts wird kommen!“

Doch Bahar und Navid begannen mit ihren Freundinnen und Freunden zu sprechen: „Als ich noch klein war, hörte ich eine Geschichte von meiner Großmutter, die leider schon lange tot ist. Sie hat erzählt, dass Mond und Sonne ja eigentlich Mann und Frau sind. Manchmal streiten sie miteinander, wie das in jeder Ehe vorkommt. Aber sie wohnen im selben Haus am Himmel und einmal im Monat kommen sie zusammen!“

Natürlich hatten sie sich die Geschichte selber ausgedacht. Aber die jungen Leute hatten genug vom Kämpfen und fanden die Geschichte gut genug, ohne lange darüber zu disputieren. Und als Bahar und Navid heirateten, wurde im Tempel der Sonne eine silberne Mondscheibe aufgehängt und im Tempel des Mondes eine goldene Sonne. Und es war wieder Frieden, solange Bahar und Navid lebten.

Später einmal aber, als fremde Reiter ins Land kamen, mussten ihre Enkel sich wieder etwas Neues ausdenken, damit es auch weiter Frieden gab ...

Der Sklave

Ein Mann hatte einen Sklaven. Der musste für ihn alle Arbeiten tun. Der Sklave wusch den Mann, kämmte ihn, schnitt ihm das Essen klein und steckte es ihm in den Mund. Der Sklave schrieb dem Mann seine Briefe, putzte ihm die Schuhe, flickte ihm die Socken, hackte ihm das Holz und heizte ihm den Ofen ein. Wenn der Mann beim Spazierengehen Himbeeren sah, musste der Sklave sie pflücken und ihm in den Mund stecken Damit der Sklave nicht davonlief, hielt der Mann ihn immer an einer Kette fest. Tag und Nacht musste er ihn festhalten und mit sich herumschleppen, sonst wäre der Sklave davongelaufen. In der anderen Hand hielt der Mann immer eine Peitsche. Denn wenn der Sklave an der Kette zog und zerrte, dann musste der Mann ihn auspeitschen. Wenn ihm dann die Arme schmerzten und er ganz erschöpft vom Auspeitschen war, fluchte er auf den Sklaven und auf die Kette und überhaupt auf alles.

Manchmal träumte er heimlich von den Zeiten, als er noch jung gewesen war und noch keinen Sklaven gehabt hatte. Damals konnte er noch frei durch die Wälder  schweifen  und  Himbeeren pflücken ohne dieses ständige Zerren an der Kette. Jetzt konnte er nicht einmal allein aufs Klo gehen. Erstens, weil der Sklave sonst weggerannt wäre, und zweitens, wer hätte ihm sonst den Hintern abgewischt? Er selbst hatte ja gar keine Hand dazu frei.

Einmal, als er so fluchte, sagte einer zu ihm: ,,Na gut, wenn es so schrecklich ist, warum lässt du den Sklaven dann nicht frei?"

,,Ja", sagte der Mann, ,,damit er mich umbringt!" Aber heimlich träumte der Mann von der Freiheit.

Und der Sklave, träumte der auch von der Freiheit? Nein, an die Freiheit glaubte der schon längst nicht mehr. Er träumte nur noch davon, selber der Herr zu sein und den Mann an der Kette zu führen und auszupeitschen und sich von ihm den Hintern abwischen zu lassen. Davon träumte er!

Die guten Rechner

Der Mullah Nasreddin Hodscha kam auf seinen Reisen auch in ein Dorf, das dafür bekannt war, dass seine Einwohner besonders gut im Rechnen waren. Nasreddin fand Quartier bei einem Bauern. Am nächsten Morgen stellte Nasreddin fest, dass in dem Dorf kein Brunnen war. Am Morgen wurden in jedem Haus ein oder zwei Esel mit Wasserkrügen bepackt, und dann zog man los zu einem eine Stunde entfernten Bach, füllte die Krüge und brachte sie wieder zurück, was noch einmal eine Stunde dauerte.

"Wäre es nicht besser, wenn man das Wasser im Dorf hätte?" fragte der Hodscha den Bauern, bei dem er wohnte.

"Oh, viel besser", sagte der Bauer. "Das Wasser kostet mich jeden Tag zwei Arbeitsstunden mit einem Esel und einem Junge, der den Esel treibt. Das macht im Jahr 1460 Stunden, wenn man einen Esel mit einem Jungen gleichsetzt. Wenn der Esel und der Junge in dieser Zeit auf den Feldern arbeiten würden, könnte ich zum Beispiel ein ganzes Kürbisfeld mehr bestellen und jedes Jahr 457 Kürbisse zusätzlich ernten."

"Ich sehe, du hast alles gut ausgerechnet", sagte bewundernd der Hodscha. "Warum also nicht einen Graben anlegen, um das Wasser bis ins Dorf zu leiten?"

"Das ist nicht so einfach", sagte der Bauer. "Es ist ein Hügel dazwischen, den man abtragen müsste. Wenn ich meinen Jungen und den Esel, statt sie um Wasser zu schicken, einen Graben anlegen ließe, würden sie, wenn sie täglich 2 Stunden arbeiten, 500 Jahre brauchen. Ich lebe aber vielleicht nur noch 30 Jahre, also ist es für mich billiger, ich lasse sie Wasser holen."

"Ja, aber müsstest du denn alleine für den Kanal aufkommen? Ihr seid doch mehr Familien in eurem Dorf?"

"Oh ja", sagte der Bauer, "wir sind genau 100 Familien. Wenn jede Familie täglich für zwei Stunden einen Jungen und einen Esel schicken würde, dann wäre der Kanal in fünf Jahren fertig. Und wenn sie täglich 10 Stunden arbeiten würden, dann in einem Jahr."

"Warum sprichst du dann nicht mit deinen Nachbarn und schlägst ihnen vor, gemeinsam einen Kanal zu graben?"

"Nun, wenn ich mit einem Nachbarn eine wichtige Sache zu besprechen habe, so lade ich ihn in mein Haus ein, bewirte ihn mit Tee und Halva, spreche mit ihm über das Wetter und die Aussichten für die kommende Ernte, dann über seine Familie, über die Söhne, Töchter, und Enkel. Dann lasse ich ihm ein Essen servieren, nach dem Essen wieder Tee, dann fragt er mich nach meinem Hof und nach meiner Familie, und dann kommen wir schön langsam zur Sache. Das dauert einen ganzen Tag. Da wir in unserem Dorf 100 Familien sind, müsste ich mit 99 Familienoberhäuptern sprechen. Du wirst zugeben, dass ich nicht 99 Tage hintereinander mit solchen Gesprächen zubringen kann, da würde mein Hof zugrunde gehen. Ich könnte höchstens einmal in der Woche einen Nachbarn zu mir einladen. Das heißt, da das Jahr nur 52 Wochen hat, würde es fast zwei Jahre dauern, bis ich mit allen Nachbarn gesprochen habe. Wie ich meine Nachbarn kenne, würde schließlich jeder zustimmen, dass es besser wäre, das Wasser im Dorf zu haben, denn sie können alle gut rechnen. Und wie ich sie kenne, würde jeder von ihnen versprechen, mitzumachen, wenn auch die anderen mitmachen. Also müsste ich nach zwei Jahren wieder von vorne beginnen, alle meine Nachbarn einzuladen, und ihnen sagen, dass auch die anderen bereit wären, mitzumachen."

"Gut", sagte der Hodscha, "aber nach vier Jahren wäret ihr dann doch so weit, mit der Arbeit zu beginnen. Und nach einem weiteren Jahr wäre sie fertiggestellt!"

"Es kommt noch eine Schwierigkeit hinzu", sagte der Bauer. "Du wirst zugeben, wenn der Kanal einmal gegraben ist, wird jeder von dort Wasser holen können, egal, ob er sich an den Arbeiten beteiligt hat oder nicht."

"Das ist richtig", sagte der Hodscha. "Selbst wenn man es wollte, könnte man den Kanal nicht in seiner ganzen Länge bewachen."

"Eben", sagte der Bauer. "Also hätte jemand, der sich vor der Teilnahme an der Arbeit drückt, denselben Nutzen wie alle anderen, aber ohne die Kosten."

"Das gebe ich zu", sagte der Hodscha.

"Also wird doch jeder von uns, der rechnen kann, versuchen, sich zu drücken. Einmal wird der Esel lahm sein, einmal wird der Junge an Husten leiden, einmal wird die Frau krank sein und man wird Jungen und Esel brauchen, um den Arzt zu holen. Nun kann aber jeder von uns rechnen, also wird jeder von uns sich zu drücken versuchen. Und weil jeder von uns weiß, dass die anderen sich drücken werden, wird erst gar keiner seinen Esel und seinen Jungen zur Arbeit schicken. Also wird der Graben nicht einmal begonnen werden."

"Ich muss zugeben, dass deine Überlegungen sehr einleuchtend klingen, sagte der Hodscha. Er grübelte eine Weile, doch dann rief er plötzlich aus: "Ich kenne aber ein Dorf auf der anderen Seite des Gebirges, das genau das gleiche Problem hatte wie Ihr. Die haben aber schon seit zwanzig Jahren einen Graben."

"Ja", sagte der Bauer, "die können aber auch nicht rechnen!"

Der seltsame Krieg

Auf einem fremden Planeten oder in einer anderen Zeit gab es einmal zwei Länder, die hießen Hüben und Drüben. Es gab noch andere Länder wie Nebenan und Weitfort, aber diese Geschichte handelt von Hüben und Drüben.

Eines Tages hielt der Oberstgewaltige von Hüben eine Ansprache an seine Bürger. Er sagte, dass das Land Hüben von dem Land Drüben bedrängt würde und dass die Hübener nicht mehr länger zusehen könnten, wie das Land Drüben mit seiner Grenze das Land Hüben drückte und einengte.

„Sie liegen so dicht an uns, dass uns nicht einmal mehr Platz zum Schnaufen bleibt!" schrie er. „Nicht das kleinste Bisschen können wir uns rühren. Sie sind nicht bereit, ein bisschen zu rücken, ein bisschen Platz zu machen, uns ein wenig Bewegungsfreiheit zu gönnen. Aber wenn sie dazu nicht bereit sind, dann werden wir sie eben zwingen müssen.

Wir wollen keinen Krieg. Wenn es nach uns geht, gibt es den ewigen Frieden. Aber es geht leider nicht nach uns. Wenn sie nicht bereit sind, mit ihrem Land ein wenig von uns wegzurücken, dann zwingen sie uns ja zum Krieg. Aber wir lassen uns den Krieg nicht aufzwingen. Wir nicht! Wir werden nicht zulassen, dass sie uns zwingen, unsere besten Söhne sinnlos zu opfern, damit unsere Frauen zu Witwen, unsere Kinder zu Waisen werden! Darum müssen wir die Macht von Drüben brechen, bevor sie uns zwingen, einen Krieg anzufangen. Und darum, Mitbürger, um uns unserer Haut zu wehren, um den Frieden zu schützen, um unsere Kinder zu retten, erkläre ich hiermit in aller Form dem Staat Drüben den Krieg!"

Die verwirrten Hübener sahen erst einander an. Dann sahen sie ihren Oberstgewaltigen an. Und dann sahen sie die Sonderpolizeitruppen mit den Panzerhelmen und Vernichtungsstrahlern an, die den Platz umstanden, und klatschten begeistert Beifall und schrien: „Hoch der Oberstgewaltige! Nieder mit denen von Drüben!"

Und der Krieg begann.

Noch am selben Tag überschritt die Armee von Hüben die Grenze. Es war ein gewaltiger Anblick. Die Panzerfahrzeuge sahen aus wie riesige eiserne Drachenfische. Sie walzten alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte. Aus ihren Kanonenrohren konnten sie Granaten schießen, die alles zerfetzten, und giftige Gase blasen, die alles umbrachten. Jedes ließ hinter sich einen hundert Meter breiten Streifen Tod.

Vor ihnen lag ein blühender Wald, und hinter ihnen lag nichts mehr.

Wo die Flugzeuge flogen, wurde der Himmel dunkel, und wer darunter stand, fiel angstgeschüttelt auf sein Gesicht, bloß von dem Lärm. Und wo ihr Schatten hinfiel, da fielen auch ihre Bomben hin.

Zwischen den Riesenflugzeugen am Himmel und den Panzerfahrzeugen am Boden surrten Schwärme von Hubschraubern wie kleine, bösartige Mücken. Die Soldaten aber sahen aus wie stählerne Kampfroboter in ihren Schutzanzügen, die sie unempfindlich machten gegen Kugeln, Gas, Gift und Bazillen.

In ihren Händen trugen sie schwere Kampfapparate, die tödliche Geschosse versprühen konnten, oder Laserstrahlen, die alles zerschmolzen.

So marschierte die unaufhaltsame Armee von Hüben, um jeden Feind erbarmungslos niederzumachen. Doch seltsam  sie fand keinen Feind.

Am ersten Tag drang die Armee zehn Kilometer ins feindliche Gebiet ein, am zweiten Tag zwanzig. Am dritten Tag überquerte sie den großen Fluss. Überall fand sie nur verlassene Dörfer, abgeerntete Felder, ausgeräumte Fabriken, leere Lagerhäuser. „Sie verstecken sich, und wenn wir an ihnen vorbei sind, überfallen sie uns von hinten!" brüllte der Oberstgewaltige. „Durchsucht alle Heuschober und alle Misthaufen!"

Die Soldaten durchstöberten die Misthaufen, aber alles, was sie dabei fanden, waren haufenweise Ausweispapiere: Personalausweise, Geburtsurkunden, Heimatscheine,

Reisepässe, Impfzeugnisse, Immatrikulationsbescheinigungen, Rundfunkgebühren-ermäßigungs-berechtigungsscheine, Hundesteuerentrichtungsnachweise und hunderterlei andere Dokumente. Und aus allen Lichtbildausweisen waren die Fotos herausgerissen. Was das bedeuten sollte, konnte sich niemand erklären.

Ein großes Problem waren die Wegweiser. Sie waren abmontiert oder verdreht oder übermalt, aber manche stimmten auch, so dass man sich nicht einmal darauf verlassen konnte, dass sie falsch waren. Immer wieder gingen Soldaten verloren, ganze Kompanien verliefen sich, Divisionen führen in die Irre, und so mancher verlassene General schickte fluchend Motorradfahrer in alle Richtungen, um seine Soldaten zu suchen. Der Oberstgewaltige musste sofort alle Vermessungsbeamten und Geographielehrer von Hüben zum Militär einberufen, damit das eroberte Land ordentlich beschriftet werden konnte.

Am vierten Tag des Feldzuges machte die Armee von Hüben ihren ersten Gefangenen. Es war aber kein Soldat, sondern ein Zivilist, den sie im Wald gefunden hatten mit einem Pilzkorb überm Arm. Der Oberstgewaltige ließ ihn persönlich zu sich zum Verhör kommen. Der Gefangene sagte, dass er Hans Müller heiße und von

Beruf Pilzesammler sei. Seinen Ausweis, sagte er, hätte er verloren, und wo die Armee von Drüben sei, das wisse er nicht.

In den nächsten Tagen nahm die Armee von Hüben einige Tausend Zivilisten fest. Alle hießen Hans oder Lieschen Müller, und alle hatten keine Ausweise. Der Oberstgewaltige tobte.

Schließlich besetzte die Armee von Drüben die erste größere Stadt. Überall sah man Soldaten, die Straßennamen an die Wände pinselten. Die Stadtpläne hatte man vom Geheimdienst kommen lassen müssen. Durch die Eile gab es natürlich viele Irrtümer, und manche Straßen hießen auf der linken Seite anders als auf der rechten, und am oberen Ende anders als am unteren. Ständig irrten suchende Kompanien durch die Stadt, voraus ein fluchender Feldwebel mit dem Stadtplan in der Hand. Überhaupt funktionierte in der Stadt gar nichts. Das Elektrizitätswerk arbeitete nicht, das Gaswerk, das Telefon, nichts funktionierte.

Der Oberstgewaltige ließ sofort bekannt machen, dass es verboten wäre zu streiken und dass alle sofort an die Arbeit zu gehen hätten.

Die Leute gingen auch in die Fabriken und Büros, aber es funktionierte trotzdem nichts. Wenn die Soldaten hinkamen und fragten: „Warum wird hier nicht gearbeitet?", dann sagten die Leute: „Der Herr Ingenieur ist nicht da" oder „Der Meister ist nicht da" oder „Die Frau Direktor ist nicht da".

Aber wie sollte man die Frau Direktor finden, wenn alle Lieschen Müller hießen?

Der Oberstgewaltige ließ verkünden, dass jeder erschossen würde, der nicht seinen richtigen Namen und Titel sagte. Da nannten sich die Drübener nicht mehr Müller, sondern irgendwie, aber was half das schon.

Je weiter die Armee in das Land vordrang, desto schwieriger wurde alles. Es war schon bald kein frisches Essen für die Soldaten aufzutreiben, alles musste von Hüben gebracht werden. Die Eisenbahn funktionierte nicht, die Eisenbahner standen herum, führen sinnlos mit den Loks hin und her. Die Zugführer stritten sich um die Waggons, und natürlich waren alle Chefs, die sich auskannten, verschwunden. Niemand konnte sie finden.

Den Soldaten tat niemand was. Da wurden sie bald unvorsichtig, liefen mit offenen Panzerhelmen herum und plauderten mit den Leuten. Und die Leute von Drüben, die alles Essbare vor den Beschlagnahmekommandos der Armee versteckten, teilten ihr bisschen Essen mit den einzelnen Soldaten oder tauschten mit ihnen frischen Salat oder selbstgebackenen Kuchen gegen Konserven; denn davon hatten die Soldaten genug, und sie hingen ihnen zum Hals heraus.

Als der Oberstgewaltige das erfuhr, kriegte er einen Tobsuchtsanfall und verbot allen Soldaten, ihre Unterkünfte zu verlassen, außer, wenn sie im Trupp auf Patrouille gingen. Das gefiel den Soldaten nicht.

Schließlich besetzte die Armee die Hauptstadt von Drüben. Aber auch hier war alles wie überall in diesem Land. Es gab keine Straßenschilder, keine Hausnummern, keine Namensschilder an den Türen, keine Direktoren, Ingenieure, Meister, keine Polizisten und keine Beamten. Die Ministerien waren leer und alle Akten verschwunden. Wo die Regierung war, wusste niemand.

Da beschloss der Oberstgewaltige endlich hart durchzugreifen. Er ließ verlautbaren, dass alle Erwachsenen in ihre Betriebe und Büros gehen sollten. Wer zu Hause bliebe, würde erschossen.

Dann ging er selbst ins Elektrizitätswerk und ließ alle Soldaten und Offiziere dorthin kommen, die zu Hause mit Elektrizitätswerken zu tun hatten. Er hielt den Arbeitern eine Rede ,und dann sagte er, in zwei Stunden müsse Strom sein. Die Offiziere kommandierten, und die Soldaten kontrollierten, und die E-Werksarbeiter rannten hin und her und taten gen au das ,was ihnen die Offiziere sagten. Das gab natürlich ein fürchterliches Chaos und keinen Strom.

Da rief der Oberstgewaltige die Offiziere wieder zurück und sagte zu den E-Werksarbeitern: „Wenn nicht in einer halben Stunde Strom ist, werdet ihr alle erschossen!" Und siehe da, nach einer halben Stunde war Licht. Da sagte der Oberstgewaltige: „Seht ihr, ihr Bande, man muss euch nur richtig Beine machen!" und zog mit seinen Soldaten zum Gaswerk, um es dort genauso zu machen.

Aber am nächsten Tag gab es wieder keinen Strom, und als der Oberstgewaltige wütend mit einer Kompanie seiner speziell ausgebildeten Mördersoldaten anrückte, um alle E-Werksarbeiter auszurotten, war das E-Werk leer, und die E-Werksarbeiter und E-Werksangestellten hatten sich in den Fabriken und Büros unter die Leute gemischt.

Da gab der Oberstgewaltige seinen Soldaten den Befehl, einfach tausend Leute von der Straße zusammenzusammeln und zu erschießen.

Aber durch die heimtückische List der Leute von Drüben, immer freundlich zu den Soldaten zu sein, war die Moral der ~Truppe schon so aufgeweicht, dass niemand bereit war, einfach irgendwelche tausend Leute zu erschießen, die gar nichts getan hatten. Da gab der Oberstgewaltige seinen Mördersoldaten den Befehl. Aber seine Offiziere ließen ihn wissen, dass die gewöhnlichen Soldaten schon sehr unzufrieden wären und es vielleicht sogar eine Meuterei geben könnte, wenn die tausend Leute erschossen würden.

Und der Oberstgewaltige kriegte Briefe von den Mächtigen zu Haus~, die ihm schrieben: „Oberster der Gewaltigen! Sie haben Ihre Feldherrengabe und Ihr militärisches Genie bewiesen, und wir beglückwünschen Sie zu Ihren zahllosen, glänzenden Siegen. Doch bitten wir Sie nun, wieder zurückzukommen und diese Verrückten von Drüben sich selbst zu überlassen. Sie kosten uns zu viel. Wenn wir hinter jeden Arbeiter einen Soldaten mit einer Maschinenpistole stellen müssen, der ihn mit Erschießen bedroht, und einen Ingenieur, der ihm sagt, was er zu tun hat, dann lohnt sich das ganze Erobern irgendwie nicht mehr. Bitte, kommen Sie nach Hause, denn zu lange hat unser geliebtes Land schon Ihre glänzende Gegenwart entbehrt."

Da packte der Oberstgewaltige seine Armee zusammen, ließ an wertvollen Maschinen und anderen Kostbarkeiten mitgehen, was seine Truppen transportieren konnten, und fuhr fluchend wieder nach Hause.

„Aber gezeigt haben wir's ihnen", knurrte er. „Diese Feiglinge. Was werden sie jetzt tun, die Narren! Wie werden sie jetzt feststellen, wer ein Ingenieur ist, wer ein Arzt, wer ein Tischler? Ohne Zeugnisse und Diplome! Wie werden sie regeln, wer in der Villa wohnen soll und wer in der Mietwohnung, wenn keiner beweisen kann, was ihm gehört? Wie werden sie sich zurechtfinden, ohne Besitzurkunden, ohne Strafregister und Führerscheine, ohne Titel und Uniformen? Was für ein Durcheinander werden sie haben! Und das alles nur, damit sie nicht mit uns Krieg führen müssen, diese Feiglinge."

Arobanai

Arobanai hob den Kopf aus dem Wasser des Flusses. Vor ihr lag Apa Lelo in der Sonne des Nachmittags. In der Ferne war Donner zu hören, doch der Regen würde erst später kommen. Zeit genug, die Hütten aufzubauen. Auf der grasbewachsenen Lichtung spielten schon Kinder, hier und da lagen Bündel im Gras. Die Männer, die schon früher angekommen waren, hatten sie dort abgelegt, wo sie später ihre Hütten haben wollten, und waren gleich auf die Jagd gegangen. Die Frauen mit den Kindern hatten sich mehr Zeit gelassen bei ihrer Wanderung, weil sie unterwegs noch Pilze und Wurzeln sammeln wollten. Arobanai rieb ihren Körper im Wasser ab. Es war schön ein neues Lager frisch zu betreten, den Staub und Schweiß der Wanderung und aller früheren Lager von sich abzuwaschen. Ein neues Lager war immer ein neuer Anfang, voll neuer Möglichkeiten und Aussichten. Sie schüttelte das Wasser aus ihrem kurzen, krausen Haar und watete zum Ufer zurück. Dann hob sie ihr Bündel hoch über den Kopf und trug es durch den Fluss ans andere Ufer. Sie wusste, wenn sie so die Arme hob, ragten ihre festen Brüste noch angriffslustiger hervor, und das Wasser des Flusses ließ ihren Körper glänzen und all seine Formen noch schöner zur Geltung kommen. Drüben traten gerade die ersten jungen Burschen mit ihrer Jagdbeute aus dem Wald. 

Apa Lelo war der schönste Lagerplatz, den Arobanai kannte. Der Lelo machte hier eine Schlinge, so dass der Lagerplatz nahezu eine Insel war. In der Mitte der Insel standen die Bäume weit auseinander und bildeten eine natürliche Lichtung, trotzdem stießen ihre Kronen weit oben beinahe aneinander, so dass der Platz hell war, aber doch nie im prallen Sonnenlicht lag. Ungefähr in der Mitte der Insel teilte eine Baumgruppe den Platz in zwei annähernd gleiche Hälften. Die Kinder hatten schon ihren Spielplatz unter den Bäumen am Ufer in Besitz genommen, etwas entfernt von dem Platz, wo die Hütten stehen würden, aber doch in sicherer Nähe.

Arobanai suchte das Bündel ihres Vaters Ekianga. Ihre Mutter war noch nicht angekommen, und so schnürte sie als erstes das Blätterpäckchen auf, in dem sie ein glühendes Scheit hierher gebracht hatte. Sie legte ein paar dürre Stöckchen darauf, blies auf die Glut, und die Flammen griffen nach den Ästchen. 

Nach und nach trafen immer mehr Menschen ein. Einige Männer brachten Fleisch und brachen wieder auf, um Stöcke und Blätter zu schneiden. Die Frauen fachten Feuer an und begannen zu kochen. Fast alle hatten Pilze und Wurzeln gesammelt - die Kinder schleppten sie armvollweise an - und in den Kürbisschalen wurde daraus jetzt eine Soße gekocht, in die Fleischstückchen geworfen wurden.

Wenn die Männer mit Stöcken und großen Bündeln der breiten Mongongo-Blätter ankamen, begannen die Frauen die Hütten zu bauen. Sie stießen die Stöcke kreisförmig in den Boden, dann banden sie mit Lianen die Spitzen zu einer Kuppel zusammen. In das Gerüst wurden dünnere Zweige geflochten, und in dem Geflecht die breiten, herzförmigen Blätter befestigt. Immer noch kamen Wanderer an, die später aufgebrochen waren oder sich unterwegs mit der Suche nach irgendwelchen Delikatessen aufgehalten hatten, und die Frauen, die schon an ihren Hütten bauten, lachten und riefen ihnen zu, wie nass sie werden würden, denn die Regenwolken kamen immer näher.

Aber die Männer, die ihre Frauen mit Baumaterial versorgt hatten, liefen wieder in den Wald und schnitten Holz und Blätter für die Spätankömmlinge. Verwandte und Freunde bauten ihre Hütten nahe beieinander. Familien, die nicht gut aufeinander zu sprechen waren, ließen sich an entgegengesetzten Enden des Lagers nieder, und wenn das nicht möglich war, legten sie ihre Hütten so an, dass die Eingänge von einander abgewandt waren. 

Die Gewitterwolken brachten einen frühen Abend, die Feuer wurden in die Hütten gebracht, und immer wieder einmal musste die Lage eines Blattes korrigiert werden, wo ein kleiner Wasserstrahl in die Hütte drang. Doch der Regen dauerte nicht lange, die Feuer brannten bald wieder vor den Hütten, die Frauen brachten noch einige Verbesserungen an den Dächern an und die Männer schlenderten noch einmal mit Pfeil und Bogen in den Wald, um vielleicht noch einen Vogel oder einen Affen zu erwischen, bevor es zu dunkel war. Die Hütten dampften, und blauer Rauch lag über dem Lager, der sich plötzlich orange und gold und rot färbte, als sich die Wolken teilten und die Sonne noch rasch einen letzten Strahl über den Himmel schoss.

Arobanai lag in der Hütte ihrer Eltern auf dem Rücken und hielt ihren kleinen Bruder an einem Ärmchen fest, während sie den Kichernden mit den Beinen hochhob. Aus den Hütten rundum hörte man die Familien schläfrig miteinander plaudern, und gelegentlich gab ein ungebetener Zuhörer seinen  deftigen Kommentar ab, der einen Ausbruch von Gelächter zur Folge hatte. 

Eine der Nachbarhütten hatte sich Kenge gebaut, ein noch unverheirateter junger Jäger. Bei ihm drängte sich ein Großteil der jungen Burschen. Arobanai hörte, wie sie einander erzählten, welche Tiere sie von diesem Camp aus jagen und mit welchen Mädchen sie hier schäkern wollten. Als sie Kelemoke ihren Namen nennen hörte, rief sie hinüber: "Du hast mir zu krumme Beine. Werd erst einmal ein Jäger, du kleiner Bub du!" Dröhnendes Gelächter antwortete ihr, die Jungs drüben schlugen sich auf Brust und Schenkel und wälzten sich hilflos vor Lachen herum. Kelemoke war einer der flinksten Läufer und hatte immerhin schon allein einen Büffel erlegt.

Ekianga, ohne zu rufen, sagte nur laut, aber so, dass man es fünf Hütten weit hören konnte: "Mit diesem ganzen unnützen Geschrei kriegt man ja Kopfweh. Es sollte endlich einmal Ruhe sein, damit man hier schlafen kann!"

Das brachte die Burschen drüben immerhin dazu, sich aufs Flüstern zu verlegen, und nur gelegentlich hörte man sie kichern und prusten. Arobanai lächelte. Dieses Lager würde ein gutes Lager werden, sie fühlte es. Sie würde viel Spaß haben hier.

Am Morgen aber herrschte Trauer. Ein langgezogener, schrecklicher Schrei weckte Arobanai, die grauenhafte Klage eines Wesens, das in absolute Finsternis gefallen ist. Alle stürzten aus ihren Hütten. Balekimito, eine Tante von Arobanais Vater Ekianga, die Mutter von Amabosu und Manyalibo, war tot, ganz tot. Die alte Frau, von allen geachtete vielfache Großmutter, war schon vor dem Aufbruch ins neue Lager krank gewesen. Ihre Söhne Amabosu und Manyalibo wollten sie nicht zurücklassen, sie wären bei ihr geblieben, bis es ihr besser gegangen wäre, doch die Jagd war schlecht gewesen im alten Lager, und Balekimito hatte darauf bestanden, den Umzug mitzumachen. Doch die Wanderung hatte sie geschwächt, und nun war sie ganz tot und würde bald tot für immer sein. In ihrer Hütte drängten sich ihre Verwandten, ihre Söhne liefen  tränenverschmiert auf und ab, ihre Tochter Asofalinda versuchte ihre Brüder zu trösten, brach aber immer wieder weinend neben dem Lager der Alten zusammen. Nur Balekimito selber war ruhig inmitten der stöhnenden, weinenden Menge. Sie griff nach den Händen ihrer Söhne, zog ihre Tochter zu sich heran und flüsterte: "Ich bin bei meinen Kindern. Ich bin nicht allein beim Sterben. Es ist gut."

Mit ihren immer noch wachen Augen schaute sie in der Hütte herum und erblickte ihre Großnichte Arobanai. Sie winkte sie mit ihrer Hand, die durchsichtig war wie ein dürres Blatt, zu sich. "Du bist hübsch geworden" flüsterte sie. "Hast du dir schon einen Liebsten ausgesucht?". Sie kicherte, und hielt Arobanais Handgelenk umklammert. Arobanai hockte starr neben dem Lager der Alten. Balekimito schlief ein, doch ihr Griff lockerte sich nicht. Das Mädchen blieb hocken. Die Männer und Frauen unterdrückten ihre Klageschreie, um den Schlaf der alten Frau nicht zu stören. Als die Sonne hoch über dem Lager stand, hörte Balekimito auf zu atmen. 

Nun gab es keinen Grund mehr, sich zurückzuhalten. Asofalinda hatte plötzlich ein Bastseil in den Händen und legte sich eine Schlinge um den Hals. Drei Männer mussten sie daran hindern, sich ein Leid anzutun. Kinder drängten in die Hütte und liefen wieder hinaus, warfen sich zu Boden und schlugen in hilflosem Zorn auf die Erde ein. Der uralte Tungana und seine Frau Bonyo hockten vor ihrer Hütte und die Tränen liefen ihnen über die verwelkten Gesichter. Arobanai hockte immer noch erstarrt inmitten des Heulens und Klagens, und das Heulen und Klagen würde nie mehr enden, denn Balekimito würde nie mehr aufwachen. Sie war tot, nicht nur einfach tot, sie war tot für immer, und würde immer so liegen und ihr Handgelenk halten. 

Erst als Arobanais Mutter Kamaikam herantrat und sanft die Finger der Toten aufbog, konnte auch Arobanai in Tränen ausbrechen, sich auf dem Boden wälzen und ihren Kummer und Schrecken hinausweinen.

Erst am Abend beruhigte sich das Lager langsam. Vom Kummer erschöpft hockten und lagen alle vor oder in ihren Hütten. Da trat der alte Moke in die Mitte des Lagers und fing ganz leise zu reden an. Man rückte näher, um ihn zu hören, und er sagte mit seiner ruhigen, melodischen Stimme: "Das ist nicht gut, dass alle herumsitzen und traurig sind. Die Feuer brennen herunter und niemand kocht essen. Morgen werden alle hungrig sein und zu schwach und zu müde für die Jagd. Sie, die uns allen eine gute Mutter war, ist gut gestorben. Alle sollten froh sein, dass sie so lange gelebt hat und dass sie einen so guten Tod gehabt hat."

Allgemeines Nicken antwortete ihm.

Manyalibo sagte: "Ja, es stimmt. Alle sollen froh sein. Dieses ganze Jammern führt zu nichts, es soll aufhören. Wir sollten ein Fest machen. Wir sollten den Molimo rufen und ein Fest für den Molimo abhalten."

Und Njobo, der große Jäger, der allein einen Elefanten getötet hatte, sagte: "Ja, ihr Tod ist eine große Sache, und wir sollten ein großes Fest abhalten. Wir sollten feiern, bis der Mond einmal oder zweimal voll gewesen ist, oder sogar dreimal!"

Am nächsten Tag gingen zwei Burschen mit einem Lianenlasso von Hütte zu Hütte. Sie warfen die Schlinge in die Hütte und warteten. Die Bewohner der Hütte legten ein paar Bananen in die Schlinge, Wurzeln oder auch ein Stück getrocknetes Fleisch. Die Burschen taten, als ob sie die Spende einfangen und um sie kämpfen mussten, dann gingen sie weiter zur nächsten Hütte. In der Mitte des Lagers hing bald ein gut gefüllter Korb an einer Stange neben dem Molimo-Feuer. 

Währen des Tages taten die Burschen sehr geheimnisvoll wegen des Molimo. Frauen durften den Molimo nicht sehen. Die Burschen deuteten an, dass der Molimo gefährlich sei, das große Tier des Waldes, und nur Männer mit ihm fertig werden konnten. Arobanai, die mit ihren Freundinnen das Innere aus Baumrinden schälte, um daraus Bast zu gewinnen, wollte ärgerlich auffahren, aber eine Tante griff nur ruhig nach ihrem Arm, lächelte ein wenig und schüttelte den Kopf. Am Abend, nach dem Essen, verzogen sich die Frauen mit den Kindern hastig in ihre Hütten. Die Alten Männer, die Jäger und die Burschen versammelten sich ums Feuer und begannen zu singen.

Arobanai spielte mit ihrem kleinen Bruder. Draußen sangen die Männer. Als Arobanai schon einschlafen wollte, gab ihr Kamaikam einen kleinen Stoß. Im Schein der glühenden Scheiter konnte Arobanai sehen, dass ihre Mutter lächelte und mit dem Kopf nach draußen deutete. Sie lauschte. Die Männer sangen, und leise, dass sie es nicht hören sollten, summte Kamaikam mit:

"Um uns ist Dunkelheit, große Dunkelheit.

Dunkelheit ist um uns, große, schwarze Dunkelheit.

Aber wenn es Dunkelheit gibt,

dann ist die Dunkelheit gut.

Dunkelheit ist um uns, große schwarze Dunkelheit,

aber wenn es Dunkelheit gibt,

und die Dunkelheit zum Wald gehört,

dann ist die Dunkelheit gut."

Jede Nacht sangen die Männer die Lieder des Molimo. Und die Frauen verzogen sich in ihre Hütten und taten, als ginge sie das alles nichts an. Wenn die Männer sangen, antwortete ihnen das große Tier des Waldes. Es rief mit der Stimme des Büffels, mit der Stimme der Antilope, mit der Stimme des Elefanten. Es rief mit Vogelstimmen und mit Leoparden- und Affenstimmen. Und dann aber wieder, dann sang und summte es die Lieder der Männer am Feuer, die Männer sangen, und das große Tier des Waldes antworte ihnen. Es sang bald näher, bald ferner, bald aus Norden und bald aus Süden. 

Bis in den frühen Morgen sangen die Männer manchmal. Jeder Mann musste teilnehmen, jeder Mann musste die Nacht mit Singen und Essen, Essen und Singen verbringen. Wenn einer schlief, so hieß es, würde das Große  Tier des Waldes ihn fressen.

"Die brauchen nicht so reden!" sagte Akidinimba mürrisch, als sie mit Arobanai und anderen Mädchen beim Beerenpflücken war. "ich weiß doch, was es ist. Es ist ein großes Rohr, ein Rohr aus Bambus, da blasen sie hinein und rufen und singen. Gestern war es Ausu, der mit dem Rohr im Wald herumgelaufen ist."

"Er hat eine schöne Stimme!" sagte Arobanai.

"Man redet nicht darüber!" sagte Kidaya. "Frauen reden nicht darüber!"

Aber nachts, wenn die Männer sangen, lächelte Kamaikam und summte die Lieder mit, und Tante Asofalinda erzählte: "Einmal, vor Zeiten, hat der Molimo den Frauen gehört. Die Frauen haben die Lieder gesungen und sind mit dem Molimo durch den Wald gelaufen. Der Wald ist gut zu uns und gibt acht auf seine Kinder. Darum singen wir Lieder für ihn, damit der Wald fröhlich wird. Doch manchmal schläft der Wald, dann können böse Dinge passieren. Dann wecken wir den Wald, dann holen wir den Molimo, damit der Wald aufwacht und seine Kinder nicht vergisst im Traum."

"Und warum laufen die Männer jetzt mit dem Molimo?"

"Ach, die Männer. Sie wollen immer alles besser wissen. Sie sagen, sie sind die großen Jäger, sie wissen, wie man mit den Tieren des Waldes fertig wird."

Und Kamaikam lächelte geheimnisvoll und sagte, Arobanai sollte warten.

In der fünften Nacht des Molimo kam Kelemoke zu ihr in die Hütte. Arobanai war grenzenlos verblüfft. "Wenn du nicht mit den Männern singst, wird das Große Tier des Waldes dich fressen!" sagte sie und stieß ihn mit dem Finger in die Seite.

Kelemoke lachte leise. "Warum soll es mich fressen? Deine Mutter und Tante schlafen, dein Vater singt, welche bessere Zeit gibt es für die Liebe? Warum soll mich das Tier des Waldes fressen, wenn wir tun, was alle tun?"

Jede zweite oder dritte Nacht fand Kelemoke Gelegenheit, sich vom Kumamolimo fortzustehlen. Arobanai schlich sich aus der Hütte und sie trafen sich meist auf dem Bopi, dem Spielplatz der Kinder. Dort kicherten und flüsterten sie und spielten das Spiel der Liebe. Es war umso aufregender, als es verboten war. Ein Junge und ein Mädchen aus derselben Jagdgruppe konnten nicht heiraten. Arobanai wusste auch, wen sie heiraten wollten, Tumba, einen Jungen, der mit der Gruppe von Abira und Motu jagte. Aber warum sollte sie sich in der Zwischenzeit nicht mit Kelemoke vergnügen, dem stärksten Jäger unter den jungen Burschen, der schon längst eine Frau haben könnte, wenn er nicht warten müsste, bis auch eine seiner näheren weiblichen Verwandten heiratsfähig war und, wenn ein Mädchen aus einer anderen Gruppe zu ihm kommen würde, im Austausch einen Mann aus der Gruppe des Mädchen heiraten würde. Würden die Jäger nicht ihre "Schwestern" austauschen, könnte es sein, dass eine Gruppe einmal ohne Frauen dastünde. Kein Mädchen hätte zu Kelemoke nein gesagt, aber sie, Arobanai, war die schönste, darum hatte er sie erwählt. Keine hatte so schöne Brüste wie sie und so schlanke Beine und so runde Hinterbacken. Wenn der Mond sie mit dem Blut segnen würde, dann war immer noch Zeit zum Heiraten. 

Der nächste Tag brachte erregte Debatten und Geschimpfe. Sefu war eingetroffen, der alte Unruhestifter. Es war ja nicht so, dass man ihn nicht mochte, den listigen Witzbold. Aber warum musste er ein eigenes Lager aufschlagen, gerade einmal fünfzig Schritte vom großen Lager entfernt? Fünf Familien waren es, als deren Anführer er sich fühlte. Wie wollten denn fünf Familien eine Jagd organisieren? "Es wird wieder so sein, wie das letzte Mal", sagte Asofalinda, die Schwester von Ekianga: "Wenn er etwas braucht, dann ist er einer von unserem Lager, und wenn er etwas hat, dann ist er 'nur zufällig hier in der Nähe'". Sie machte Sefus weinerliche Sprechweise nach. Als sich das Lachen gelegt hatte, sagte Masisi, der mit Sefu verwandt war: "Es ist gut, viele Jäger zu haben und viele Netze". "Ja, und viele Fresser!" sagte Asofalinda.

Asofalinda sollte Recht behalten. Sefu gab nur selten etwas für den Kumamolimo, den Essenskorb, der jeden Tag gefüllt werden musste. "Es ist nicht mein Molimo", sagte er am Tag. Aber wenn er etwas gegeben hatte, oder vielmehr, wenn jemand aus seinem Lager etwas gegeben hatte, dann kam Sefu und verschlang große Mengen. Wenn er sich satt gegessen hatte, sang er ein bisschen und nutzte die nächste Gelegenheit, wieder in seine Hütte zu verschwinden. "Wenn er sich nicht benimmt", drohten die jungen Burschen, "werden wir ihn in seiner Hütte aufsuchen, und wenn wir ihn schlafend finden, werden wir ihn mit unseren Speeren am Boden festnageln und dann, wenn er für immer tot ist, unter dem Molimo-Feuer vergraben. Seiner Frau werden wir sagen, das Tier des Waldes hat ihn gefressen, und dann wird niemand mehr von ihm reden!"

Aber natürlich blieb es bei den Drohungen, und Sefu sagte: "Warum soll ich nicht schlafen, wenn ich müde bin? Niemand wird so ein Tier sein, einen müden Mann am Schlafen zu hindern. Außerdem ist dieser Molimo nicht mein Molimo. Ich komme nur aus Freundschaft, um dem Molimo Ehre zu erweisen, und man bedroht mich mit Speeren!" 

Freilich, am Morgen wurde er oft vom Molimo gerügt. Denn der Morgen war die Zeit, wo der Molimo ins Lager kam. Dicht von Burschen umgeben, so dass man ihn nicht sehen konnte, kam der Molimo. Die Burschen rannten und tobten mit ihm zwischen den Hütten, und wer sich am Vortag in irgend einer Weise schlecht benommen hatte, bekam eins aufs Dach. Die Burschen schlugen mit ihren Speeren auf die Hüttendächer und rüttelten an den Wänden. Sefus Hütte bekam oft etwas ab, aber auch Paare, die lauten Streit gehabt hatten, Jäger, die zu oft der Jagd ferngeblieben waren, Mädchen, die zu offensichtlich mit ihnen verwandten Burschen geflirtet hatten, wurden so getadelt. Der Molimo kannte keinen Respekt, wer von ihm getadelt wurde, musste es hinnehmen.

Die Tage in Apa Lelo waren fröhliche Tage. Arobanai ging oft mit auf die Jagd. Meist wurde am Abend schon besprochen, wo am nächsten Morgen gejagt werden sollte. Die Männer und Burschen berichteten von den Fährten, die sie gesehen hatten, und wogen die Aussichten, hier oder dort Wild zu finden, gegeneinander ab. Die Frauen gaben ebenfalls ihre Meinung ab, vor allem in Hinblick auf die Waldfrüchte, die sie vor und nach der Jagd sammeln wollten. Die ersten Burschen brachen bald nach Sonnenaufgang mit ihren Netzen und Speeren und einem glühenden Scheit auf, um das Jagdfeuer zu entzünden. Das Feuer war das größte Geschenk des Waldes, und man musste dem Wald das Feuer zurückgeben. Dann war der Wald freundlich gestimmt und schenkte seinen Kindern gute Jagdbeute. Wenn das Jagdfeuer brannte, trafen auch die anderen Jäger ein, auch die Frauen und Kinder kamen in den Wald, suchten nach Pilzen und Beeren und gingen bestimmten Lianen nach, bis sie zu deren Wurzeln kamen, die süß und schmackhaft waren. 

Eines Morgens, als die Jäger versammelt waren, fehlte Sefu. Er war wohl vom Lager aufgebrochen, doch am Jagdfeuer war er nicht vorbeigekommen. Man schüttelte den Kopf, und jemand meinte, vielleicht hatte Sefu ein eigenes Jagdfeuer angezündet. Nein, schrien alle, nicht einmal Sefu macht so etwas. Als man am Ort eintraf, wo man zum ersten Mal die Netze ausspannen wollte, war Sefu schon da, hatte sich ein Feuerchen gemacht und aß geröstete Waldbananen. Ekianga und ein paar andere Männer machten einen kurzen Erkundungsgang und gaben dann Anweisungen, in welcher Richtung die Netze ausgespannt werden sollten. Die Frauen nahmen ihre Bündel und gingen mit den Kindern voraus. Alle hörten auf zu plaudern und zu plappern, kaum hörbar glitten sie durch den Wald. Die Männer schwärmten ebenfalls aus, jeder wusste genau, wo er sein Netz, das mehr als hundert große Schritte lang war, auszuspannen hatte, so dass alle zusammen einen großen Halbkreis bilden würden. Als Ekianga mit dem Ruf des Kuduvogels das Zeichen gab, stürmten die Frauen und Kinder mit Geschrei und Gejohle in breiter Linie durch den Wald. Arobanai scheuchte ein Sondu auf. Die Antilope sprang erschreckt aus einem Gebüsch. "Sie wird in Kelemokes Netz laufen", rief sie erfreut Kidaya zu, die neben ihr rannte.

Als sie bei den Jägern angelangt waren, hatte Kelemoke schon begonnen, die Antilope zu erlegen. Seine Mutter packte schon die besten Stücke in ihren Korb. Um die beiden drängten sich die anderen Frauen: "Mein Mann hat dir seinen Speer geliehen!" - "Wir haben deinen Schwestern Leber geschenkt, als sie hungrig waren und euer Vater nicht da war!" - "Mein Vater und deiner haben immer miteinander gejagt!" schrien sie. Kelemoke genoss seine Rolle und teilte mit großer Geste das Fleisch an die Frauen aus, ohne sich um ihre Beteuerungen zu scheren. Er wusste schon, wem etwas zustand.

Sefu kam daher und jammerte, dass er kein Glück gehabt hatte. Aber niemand bot ihm einen Anteil an. Er wandte sich an die Frauen: "Ihr treibt das Wild absichtlich weg von meinem Netz. Warum treibt ihr es nicht auch zu mir her?"

"He, du hast eigenes Weibervolk, beschwer dich bei denen!"

"Ach die, die sind bloß faule Dummköpfe."

Die Frauen lachten ihn aus und zuckten die Achseln. 

Kelemoke hatte Arobanais Mutter ein besonders schönes Stück aus der Keule gegeben. Arobanai ging schon einmal mit dem Korb, der gefüllt war mit Fleisch und Nüssen zurück ins Lager. Sie wollte wiederkommen, wenn die Jäger das dritte Mal die Netze ausspannten. Sie ging mit Kidaya, die sie nach Kelemoke ausfragte, aber Arobanai beschränkte sich darauf zu lachen und Anspielungen zu machen. Unterwegs trafen sie den alten Moke, der eine Leopardenspur gesehen hatte. Im Lager erzählten sie den anderen Mädchen und Frauen von der Leopardenspur. "Die Männer werden einen Schreck kriegen, wenn sie die sehen!" riefen sie kichernd. Arobanai bückte sich und machte das Schleichen eines Leoparden nach. Die anderen Frauen bildeten eine Reihe, als ob sie die Jäger wären, die im Gänsemarsch durch den Wald zogen. Der Leopard sprang auf sie los, und die Jäger flüchteten kreischen in die Bäume. 

Nachdem sie sich halb tot gelacht hatten, wollte Arobanai wieder in den Wald zu den Jägern zurückkehren. Doch die Männer kamen früher von der Jagd zurück als erwartet, mürrisch und niedergeschlagen. Keiner wollte sagen, was geschehen war, nur Kelemoke sagte muffig: "Dieser Sefu, er macht einfach zu viel Lärm!" Und Kenge sagte, "Bisher haben wir ihn immer als Mann behandelt, aber er ist ein Tier, und wir sollten ihn wie ein Tier behandeln." Und er schrie zu Sefus Lager hinüber: "Tier, Tier!", obwohl Sefu noch gar nicht da war.

Der kam erst später mit einer Gruppe älterer Jäger. Ohne zu jemandem ein Wort zu sagen, ging er hinüber in sein Lager. 

Ekianga und Manyalibo, die zuletzt gekommen waren, hockten sich ans Molimo-Feuer. "Dieser Sefu hat uns allen Schande gemacht!" sagte Ekianga, an niemanden besonders gerichtet. Und Manyalibo sagte: "Sefu hat dem Kumamolimo Schande gemacht. Wir werden den Kumamolimo abbrechen. Das Molimofest wird zu Ende sein. Am besten gehen wir in ein neues Lager."

"Alle sollen herkommen", sagte Ekianga, "alle sollen zum Kumamolimo kommen. Das ist eine ernste Sache, das muss jetzt gleich geregelt werden!"

Man versammelte sich, saß auf Hockern aus vier zusammengebunden Ästen oder auf Scheitern, und Kenge schrie wieder hinüber: "He du Tier, komm her, Tier!" Die Jungen lachten, aber die Männer schenkten ihm keine Beachtung.

Sefu schlenderte herüber, bemüht, ganz unschuldig dreinzuschauen. Er sah sich um, aber keiner bot ihm einen Sitzplatz an. Er ging zu Amabosu, einem der jüngsten Burschen, und rüttelte an seinem Hocker. "Tiere liegen auf dem Boden!" sagte Amabosu.

Sefu war den Tränen nahe: "Ich bin ein alter Jäger und ein guter Jäger. Es ist nicht recht, dass alle mich wie ein Tier behandeln".

Schließlich sagte Masisi Amabosu, er solle aufstehen und Sefu seinen Hocker überlassen.

Dann stand Manyalibo auf begann eine lange Rede: "Jeder will, dass dieses Lager ein gutes Lager ist. Und jeder will, dass dieses Molimofest ein gutes Molimofest ist. Aber Sefu verdirbt alles. Das Lager ist kein gutes Lager mehr und das Fest ist kein gutes Fest. Als seine Tochter gestorben ist, hat er es gerne angenommen, dass wir für ihn unseren Molimo geholt haben. Aber jetzt, wo seine Mutter gestorben ist, will er nichts für den Kumamolimo beitragen."

"Sie war nicht meine Mutter"sagte Sefu trotzig.

"Nicht deine Mutter?" schrie Ekianga, "sie war die Mutter von uns allen hier im Lager. Ich hoffe, dass du auf deinen Speer fallen und sterben wirst wie ein Tier! Ein Mensch stiehlt nicht Fleisch von seinen Brüdern, nur ein Tier macht so etwas!" Ekianga schüttelte zornig seine Faust.

Sefu brach in Tränen aus. Jetzt erst erfuhr Arobanai, was geschehen war. Beim zweiten Jagdzug hatte Sefu sein Netz vor den Netzen der anderen aufgebaut, und so das erste Wild abgefangen, das die Treiberinnen aufgescheucht hatten. Aber er war erwischt worden. Jetzt redete er sich heraus, dass es nur ein Missverständnis gewesen sei, er hätte die anderen Jäger aus den Augen verloren und nicht mehr gefunden. Nur darum hätte er sein Netz dort aufgebaut, wo er eben gerade war.

"Ja, ja" sagte der alte Moke, "das glauben wir ja. Du sollst nicht soviel Lärm machen. Unsere Mutter, die gestorben ist, ist nicht deine Mutter. Also gehörst du ja nicht zu uns. Du kannst dein Netz aufstellen, wo du willst und jagen, wo du willst und dein Lager aufschlagen, wo du willst. Wir werden weit weggehen und unser Lager woanders aufschlagen, damit wir dich nicht stören."

Da musste sich Sefu geschlagen geben. Mit seiner Gruppe von vier Familien konnte er keine Treibjagd organisieren. Er entschuldigte sich und sagte, es sei wirklich nur ein Versehen gewesen, aber er würde ja alles Fleisch zurückgeben.

"Dann ist es ja gut!" sagte Kenge, und stand sofort auf, und die anderen standen auch auf und begleiteten Sefu zu seinem Lager. Dort sagte er schroff zu seiner Frau, sie sollte das Fleisch hergeben, und die jungen Leute fielen über die Hütten her und suchten nach Fleisch, das unterm Dach versteckt war. Sogar die Kochtöpfe wurden ausgeleert. Sefu versuchte zu weinen, aber alle lachten ihn aus. Er hielt sich den Bauch und krümmte sich: "Ich werde sterben vor Hunger, und meine Familie auch, alle meine Verwandten werden sterben, weil meine Brüder mir alles Essen wegnehmen. Ich werde sterben, weil niemand mir die Achtung gibt, die ich verdiene."

Man ließ ihn jammern und kehrte zum Kumamolimo zurück. Das Fest war wieder ein Fest, und alle sangen und tanzten und aßen. Von Ferne hörte man Sefus Gejammer. Die Frauen riefen ihm Spottwörter hinüber und machten sein Jammern nach. Aber als alle gegessen hatten, füllte Masisi einen Topf mit Fleisch und Pilzsoße, die seine Frau gekocht hatte, und verdrückte sich. Kurze Zeit später hörte das Jammern auf.

Nachts, als Arobanai aus ihrer Hütte schlich, um sich mit Kelemoke zu treffen, sah sie Sefu mit den Männern am Molimofeuer sitzen und singen. Ein Kind des Waldes wie alle anderen.

Arobanai hatte es schon oft erlebt. Man zankte, man beklagte sich, man drohte einander. Aber die Kinder des Waldes brauchten einander. Allein, ohne die anderen, konnte niemand existieren. Darum fand sich immer eine Lösung, ein Ausweg. Wer eine Klage hatte, trat in die Mitte des Lagers und begann zu lamentieren, zu fluchen oder bombastisch seinen Rechtsstandpunkt darzulegen. Aber oft genug wandten die um Beistand angerufenen Lagermitglieder sich nicht gegen den, der im Unrecht war, sondern gegen den, der den größten Lärm machte. Ein gutes Lager war ein friedliches Lager. Ein lautes, zerstrittenes Lager war auch ein hungriges Lager. Oft entschied schon ein lautes, allgemeines Lachen einen Streitfall. Aber wenn man jemand beschämt hatte, versöhnte man ihn auch wieder.

Arobanai erinnerte sich daran, wie Tante Kondabate mit ihrem Mann Streit gehabt hatte. Im Zorn hatte sie angefangen, Blätter vom Dach ihrer Hütte zu reißen. Das war ihr gutes Recht, schließlich hatte sie die Hütte auch gebaut. Ihr Mann hatte nur wortlos zugeschaut. Da hatte sie weitere Blätter von der Hütte genommen. Jetzt hätte ihr Mann eingreifen müssen, sie versöhnen müssen. Denn wenn die Frau die Hütte abriss, war das das Ende der Gemeinschaft. Doch Kondabates Mann hatte nichts gesagt, und so hatte sie weiter Blatt um Blatt von der Hütte genommen. Die Tränen waren ihr schon heruntergerollt, doch der Mann war hart geblieben. Nach einer Weile hatte er nur gesagt: "Kondabate wird es heute Nacht ziemlich kalt haben". Da musste sie weiter die Hütte abdecken, was blieb ihr übrig, denn beschämen lassen wollte sie sich nicht. Schließlich gab es keine Blätter mehr, und sie begann, unter Tränen, an den Stangen zu rütteln. Jetzt schauten schon alle gebannt zu, denn wenn sie die letzte Stange aus dem Boden gerissen hätte, hätte sie ihr Bündel schnüren und ins Lager ihrer Eltern zurückkehren müssen. Auch Kondabates Mann war den Tränen nahe, denn er liebte sie sehr, und wollte gewiss keine Scheidung. Doch hätte er jetzt nachgegeben, hätte er noch tagelang das Gelächter seiner spottlustigen Freunde ertragen müssen. Jeder konnte sehen, wie es in seinem Kopf arbeitete. Schließlich sagte er ruhig: "Die Stangen brauchst du nicht abzubauen, nur die Blätter sind schmutzig!"

"Aii?" schrie Kondabate erstaunt. Doch dann begriff sie und sagte erleichtert: "Ja, diese Blätter sind voller Ungeziefer." Und gemeinsam gingen die beiden zum Fluss, um die Blätter zu waschen. Dann hängten sie sie wieder auf die Hütte. 

Nie zuvor hatte jemand Blätter gewaschen. Doch Kamaikam, Arobanais Mutter nahm ein paar Blätter vom Dach ihrer Hütte, murmelte: "Dieses Ungeziefer ist wirklich lästig!" und ging ebenfalls zum Fluss, Blätter waschen, als ob das so üblich wäre. Und noch einige Tage gingen die Frauen zum Fluss, und wuschen, ihr Schmunzeln verbergend, ein paar verlauste Blätter ab.

Die Tage flossen leicht dahin wie der Lelo-Fluss. Der Wald schenkte seinen Kindern Nüsse und Wurzeln, Beeren und Früchte, Pilze und Fleisch. Die Burschen prahlten mit ihrem Jagdglück und schäkerten mit den Mädchen, die Alten grasten die nähere Umgebung des Lagers ab, aber meistens saßen sie im Schatten und sprachen von längst vergangenen Taten. Die Kinder spielten am Fluss, kletterten in Gruppen auf junge Bäume, bis diese schwankten und sich zum Wasser bogen. Dann sprangen sie ab, und wer nicht schnell genug war, wurde vom zurückschnellenden Baum ordentlich durchgeschüttelt. Die Männer machten für die kleinen Jungen kleine Bogen mit stumpfen Pfeilen, und dann spielten die kleinen Mädchen und Jungen Treibjagd mit einem müden, abgeklärten Frosch. Die Frauen zeigten den Mädchen, wie man eine kleine Hütte baute, und dann kochte das kleine Mädchen voll ernst ihrem jungen Freund ein Essen aus Matsch und Nüssen, und dann gingen sie in die Hütte und spielten Kindermachen, wie sie es bei den Großen gesehen hatten. In ihren Spielen erprobten sie alles, was sie als Große einst können mussten, und unmerklich würde aus dem Spiel Ernst werden. Die Kinder nannten alle Erwachsenen Vater oder Mutter, jeden Alten Großvater oder Großmutter, und immer fand sich jemand, der sich als Büffel von ihnen jagen ließ oder als Leopard sie aus dem Hinterhalt ansprang und mit viel Gekitzel und Gelächter auffraß. 

Doch die Stange mit dem stets gefüllten Essenskorb neben dem Feuer in der Mitte des Lagers erinnerte jeden Tag daran, dass ein großes Fest im Gange war, dass der Wald selbst angerufen worden war, sich seiner Kinder zu erinnern und mit ihnen fröhlich zu sein.

In diesen Tagen wurde Kidaya mit dem Blut gesegnet. Stolz teilte sie das ihren Freundinnen mit. Und nur wenige Tage später war es auch bei Arobanai so weit. Nun würde es zusätzlich zum Molimo noch ein Elima-Fest geben. Tante Kondabate baute an ihre Hütte noch eine zweite Kuppel an. Da hinein zogen die Mädchen nun mit ihren Freundinnen. Von Kondabate lernten sie hier neue Lieder, Lieder, die nur die Frauen sangen.

Gäste kamen an. ein altes Paar, das sonst bei einer Jagdgruppe im Norden lebte, wie es hieß. Sie kehrten zuerst bei Sefu ein, wo der Mann Verwandte hatte. Dann kamen sie ins Hauptlager. Der alte Moke begrüßte sie ehrfurchtsvoll. Die alte Frau ging gleich in Kondabates Hütte. Auch Kondabate begrüßte sie mit großer Ehrerbietung. Die Mädchen betrachteten sie scheu. Die Alte hockte sich hin und sang und übte mit den Mädchen. Doch sie sang nicht die Lieder der Frauen, die Lieder des Elima, sie sang die Lieder des Molimo, die nur den Männer vorbehalten waren. Die Mädchen erschraken, doch Kondabate nickte ernst und begann, die Lieder mitzusingen. Scheu stimmten die Mädchen ein.

An diesem Abend hingen nicht ein, sondern vier mit Essen gefüllte Körbe am Kumamolimo. Manyalibo holte von jeder Hütte ein brennendes Scheit für das Molimofeuer. Die Männer und Burschen waren erregt und nervös, als sie zu singen begannen. Da kamen die Mädchen aus der Elimahütte, von der Alten geführt. Die Alte nahm Scheiter vom Molimofeuer und entzündete ein zweites Feuer neben dem ersten. Um das gruppierten sich die Frauen. Die Mädchen, die sich mit der Farbe der schwarzen Gardenia bemalt hatten, tanzten in langer Reihe, und die Frauen sangen immer lauter, immer kräftiger die Lieder des Molimo. An diesem Abend führten die Frauen den Gesang an und die Männer sangen mit. Die Alte aus dem Norden saß an dem Feuer, das sie entfacht hatte, und schaute mit unbewegtem Blick in die Flammen. Ihr gegenüber saß Kondabate, die schöne Kondabate. Wie vom Blick der Alten gebannt starrte auch sie regungslos in die Flammen.  Dann begann die Alte langsam mit den Händen zu tanzen. Ihre dürren, ausgetrockneten Finger spreizten und krümmten sich, ihre knochigen Arme zuckten und schlugen in alle Richtungen, als ob sie nicht zu ihr gehörten. Dann aber erhob sie sich, und begann zu tanzen. Sie tanzte um das Feuer der Männer, während die Männer sangen, ohne sie anzuschauen. Immer heftiger wurde der Gesang, immer heftiger ihr Tanz. Sie sprang in die Glut und tanzte in der Glut, dann begann sie, mit ihren Füßen das Feuer auseinander zu reißen. Mit wilden Tritten stieß sie glühende Scheiter nach allen Richtungen, und die Männer mussten sehen, wie sie ihnen auswichen. Der alte Moke erhob sich, und trug das Feuer wieder zusammen, doch von neuem riss die Alte es auseinander. Dreimal erinnerte sie so die Männer daran, dass die Frauen es waren, die das Feuer gezähmt und gehütet hatten, dass es an den Frauen lag, ob das Feuer ausging oder weiterbrannte, ob das Leben endete oder weiterging. Dann ergriff die Alte ein Lianenseil und legte es nacheinander in Schlingen den Männern um den Hals. Wer die Schlinge um den Hals hatte, verstummte, und als der letzte Mann gebunden war, war das Singen verebbt. Eine Weile herrschte Stille, in der nur die Stimme des Waldes zu hören war. Dann sagte der alte Moke: "Es ist wahr, wir sind gebunden. Wir sind gebunden und können nichts tun. Wir müssen etwas geben, um wieder frei zu werden." Ekianga sagte: "Wir geben das Fleisch einer Antilope, um wieder frei zu werden." Manyalibo sagte: "Geben wir auch das Fell einer Zibetkatze". Die Männer stimmten zu. Da löste die Alte die Schlingen, und wer frei war, begann wieder zu singen. 

Am nächsten Morgen waren die Alte und ihr Mann verschwunden. 

Andere Besucher kamen. Burschen aus Gruppen, deren Jagdgründe viele Tagereisen entfernt lagen. Die Nachricht vom Elimafest war schnell gereist. Überall wo Jäger im Wald auf Jäger anderer Gruppen trafen, wurde erzählt, getratscht, wurden Nachrichten über Verwandte eingeholt, das Jagdglück besprochen, Heldentaten großer Jäger zu noch größeren Taten aufgebauscht. 

Die Burschen schlossen sich den Jägern von Apa Lelo an. Die meisten von ihnen hatten Tanten und Onkel oder entferntere Verwandte in der Gruppe, bei denen sie unterschlüpften, oder sie hingen in den Hütten der Junggesellen herum. Ihr Ziel war es, abends in die Elimahütte einzudringen. Doch die Mütter der Mädchen bewachten die Hütte und warfen mit Steinen und brennenden Scheitern nach den Belagerern.

Manchmal brachen die Mädchen aus, mit weißem Lehm bemalt und mit langen, geflochtenen Peitschen bewaffnet. Sie stürmten durchs Lager, und wer ihnen gefiel, nach dem schlugen sie mit ihren Peitschen. Manchmal schlugen sie auch erwachsene und alte Männer, doch das war Spaß, ein freundlicher Tribut an ihre Männlichkeit. Doch wenn sie einen heiratsfähigen Jüngling schlugen, bedeutete das eine Verpflichtung. Der Getroffene musste das Mädchen, das ihn geschlagen hatte, in der Elimahütte besuchen. 

Tumba, den Arobanai sich im Stillen auserwählt hatte, ließ sich in Apa Lelo nicht blicken. Da beschlossen Arobanai und ihre Gefährtinnen, einen Ausfall zu machen. An einem frühen Morgen brachen sie auf, Brüste und Hinterteile mit weißen Mustern verziert, und liefen nach Westen, Antilopen- und Elefantenpfaden folgend, liefen mit langen, lautlosen Schritten, bis sie am späten Nachmittag das Lager erreichten, in dem sich Tumbas Gruppe aufhielt. Mit Geschrei fielen sie über das schläfrige Lager her, jagten die Männer um die Hütten. Die Männer  und Burschen verteidigten sich, wie sie konnten, stürzten zu den Abfallhaufen hinter den Hütten und warfen, was sie in die Hände kriegten, nach den hitzigen Mädchen. Endlich erspähte Arobanai ihren Auserwählten. Der benützte seinen Bogen, um trockene Bananenschalen nach den Mädchen zu schießen. Doch gegen die neun wilden Streiterinnen musste er unterliegen. Arobanai schonte ihn nicht. 

Am fünften Tag kam er endlich in die Elimahütte. Er lieferte den Müttern einen mannhaften Kampf, um einzudringen, doch als es ihm gelungen war, hatte er seine Pflicht getan. Er hätte sich nun Arobanai widmen können oder auch wieder gehen, oder ein anderes Mädchen erwählen. Und das tat der Kerl auch. Er schäkerte mit Kidaya, und als es Nacht wurde, konnte Arobanai nur zu gut hören, was die beiden miteinander trieben. Da entschloss sie sich, Aberi zu erhören, der schon sich schon am ersten Tag den Weg in die Elimahütte erkämpft hatte, und ihr seither mit allen Mitteln zu gefallen suchte. Sie würde mit ihm tun, was Tumba und Kidaya miteinander taten, und wenn es ihr gefiel, würde sie ihn bitten, ihren Eltern eine Antilope zu jagen, und in seiner Gruppe eine Schwester zu finden, die einen ihrer Brüder heiraten wollte. Und wenn es ihr nicht gefiel - es waren noch mehr schöne Burschen da draußen, große Jäger, die damit prahlten, dass sie den Eltern ihrer Braut nicht eine, sondern zwei Antilopen, was heißt Antilopen, einen Elefanten oder vielleicht auch zwei bringen würden. Das Leben war schön. Der Wald sorgte für seine Söhne und Töchter, er schenkte ihnen nicht nur Fleisch und Früchte zum Essen und klares Wasser zum Trinken, er schenkte ihnen das Feuer und er schenkte ihnen die Freuden der Liebe.

"Um uns ist Dunkelheit" flüsterte Arobanai,

"doch wenn es Dunkelheit gibt,

ist die Dunkelheit gut."

Dann legte sie sich zu Aberi auf seine Matte und begann ihn zu kitzeln. Er kicherte und griff nach ihr.

Sternenschlange

Hier bin ich. Ich tanze. In langer Reihe tanzen wir, geschmückt zu Ehren des Gottes. Bald werden wir bei Huitzilopochtli sein, bald werden wir die Sonne am Himmel begleiten. Wir waren Krieger, jetzt sind wir Gefangene. In langer Reihe tanzen wir, und vorne stehen die Opferpriester. In langer Reihe tanzen wir, und einer nach dem anderen sinkt dahin, als Opfer für die Götter. Bald werden sie auch mir das Messer aus schwarzem Stein in die Brust stoßen, mein Blut wird über den Opferstein fließen, und sie werden mein Herz herausschneiden. Mein Blut ist Nahrung für die Götter. Mein Blut ist Nahrung für Huitzilopochtli, die Sonne. 

Ich tanze. Sie haben mir Pulque zu trinken gegeben, jetzt bin ich leicht und tanze. Erst war ich traurig, dass nicht ich es war, der einen Feind zum Gefangenen machte. Aber jetzt bin ich leicht: Durch mich wird die Erde gerettet werden, mein Opfer wird die Götter versöhnen, dass sie die Erde nicht vernichten. Ich werde aufsteigen zu Huitzilopochtli, ich werde ihn am Himmel begleiten. Und dann werde ich zu einem Kolibri werden, wie alle tapferen Krieger, die im Kampf gefallen sind, die im Kampf geopfert wurden, und werde von Blume zu Blume fliegen und immer fröhlich sein, solange die Erde besteht.

So war es immer, und so muss es sein.

Ich tanze, und immer näher komm ich zum Opferstein. Ich tanze, und während ich tanze, erinnere ich mich:

Ich wurde am Tag 1 des Ozelotmonats geboren, und so hat mir das Schicksal den Tod als Kriegsgefangener bestimmt. Als ich zur Welt kam, sagte die Hebamme zu mir: "Geliebter Sohn, wisse, dass dein Haus nicht dein Geburtshaus ist, denn du bist ein Krieger, du bist ein Quecholli-Vogel, und das Haus, in dem du zur Welt kamst, ist bloß ein Nest. Du bist dazu bestimmt, die Sonne mit dem Blut deiner Feinde zu laben und die Erde mit ihrem Leib zu ernähren." So werden alle Knaben begrüßt. Wäre ich ein Mädchen gewesen, so hätte sie gesagt: "Du musst im Haus sein, wie das Herz im Leib. Du darfst das Haus nicht verlassen, du musst sein wie die Asche im Herd". Viele Reden wurden gehalten bei meiner Geburt, Verwandte und Freunde kamen, und der Wahrsager wurde nach meinem Schicksal befragt. Er legte den Tag meiner Taufe fest, und an diesem Tag wurde ich vielmal mit Wasser besprengt, und die Hebamme sagte die Worte: "Nimm und empfange, denn vom Wasser wirst du auf dieser Erde leben, vom Wasser wächst und grünst du; das Wasser schenkt uns, was uns not tut zum Leben." Dann wählten sie den Namen Citlalcoatl für mich, das heißt Sternenschlange.

Acht Jahre lebte ich im Haus meines Vaters. Sobald ich laufen und sprechen konnte, musste ich schon Wasser und Holz holen und meinen Vater zum Markt begleiten. Später lernte ich fischen und segeln, meine Schwestern aber lernten spinnen und weben, fegten das Haus und mahlten den Mais auf dem Reibstein.

Mit acht Jahren brachte mein Vater mich in den Calmecac, in die Tempelschule, und nicht in die gewöhnliche Kriegerschule. "Höre mein Sohn", sagte er zu mir, "du wirst weder Ehre noch Achtung ernten. Du wirst vernachlässigt, verachtet und erniedrigt werden, Jeden Tag wirst du Agavendornen schneiden, um Buße zu tun. Du wirst dich mit den Dornen stechen müssen und dein Blut als Opfer geben, und Nachts wird man dich wecken, damit du im kalten Wasser badest. Stähle deinen Körper in der Kälte, und wenn die Fastenzeit kommt, so brich sie nicht und lasse dir beim Fasten und bei Bußübungen nichts anmerken."

In der Tempelschule lernte ich ein Mann zu sein. Opfer und Selbstverleugnung wurde von uns verlangt. In der Nacht mussten wir im Gebirge den Göttern Weihrauch und unser Blut opfern. Bei Tag mussten wir auf den Feldern des Tempels hart arbeiten. Das kleinste Vergehen wurde streng bestraft. Manchmal weinte ich, und dachte, wie schwer es ist, ein Krieger zu sein und ein Mann. Doch mit der Zeit wurde ich stärker. Und ich verachtete die Knaben, die die gewöhnliche Kriegerschule besuchten. Die mussten Holz schlagen und die Wassergräben und Kanäle reinigen und auf dem Gemeindeland ackern. Aber bei Sonnenuntergang gingen sie alle ins Cuicacalco, das Haus des Gesangs und tanzten und sangen da bis Mitternacht und schliefen bei Mädchen, mit denen sie nicht verheiratet waren. Sie verkehrten nur mit Kriegern, deren Taten sie bewunderten und nachahmen wollten. Von den höheren Dingen, von Wissenschaft, Künsten und Götterverehrung hatten sie keine Ahnung.

Wir Schüler des Calmecac waren zu höheren Aufgaben bestimmt, wir konnten Priester oder Beamte werden. Selbstbeherrschung und Härte lernte ich in der Tempelschule. Aber auch mit Anstand reden und grüßen lernte ich, die Sitten, die am Hof des Kaisers herrschen, den richtigen Umgang mit Beamten und Richtern. Ich lernte auch die Sternenkunde und Traumdeutung, die Berechnung der Jahre und den Wahrsagekalender. Ich lernte, die Zeichen und Bilder für Zahlen und Namen zu malen, und die Schriften unserer Vorfahren zu entziffern. Und ich lernte die heiligen Gesänge unseres Volkes, die Lieder, mit denen die Götter geehrt werden, und die Lieder, die die Geschichte der Azteken erzählen. Denn ein großes und mächtiges Volk sind wir, und werden gefürchtet von allen Völkern der Erde.

Einst zogen wir aus von Aztlan, unserer ersten Heimat, nach der wir Azteken benannt sind. Die Sagen berichten, dass Aztlan vom Wasser umgeben war, und wir dort als Fischer gelebt hatten. Zu Anfang waren wir arm, wir kleideten uns in Felle und hatten nichts als Pfeile und Bogen und Wurfbretter für unsere Speere. Wir waren nicht besser als die Waldmenschen, die nördlich unseres Reiches leben.

Vier Priester waren unsere Anführer, die einen Schrein aus Schilf trugen. Darin war unser Gott, Huitzilopochtli, der zu ihnen sprach und ihnen sagte, was wir tun sollten. Nachdem wir Aztlan verlassen hatten, befahl uns unser Gott, wir sollten uns von nun an die "Mondleute" nennen, die Mexica.

Wenn wir einen günstigen Ort fanden, blieben wir vielleicht ein paar Jahre. Wir säten Mais, aber nicht immer blieben wir lange genug, um ihn auch zu ernten. Meistens nährten wir uns von der Jagd, von Hirschen und Rehen, Kaninchen Vögeln und Schlangen, und von dem, was auf der Erde wuchs.

Unser Gott aber versprach uns: "Wir werden uns niederlassen und sesshaft werden, und wir werden alle Völker der Welt erobern; und wahrhaftig, ich sage euch, ich will Euch zu Herren und Königen machen über alles auf dieser Welt; und ihr werdet herrschen und unzählige Lehensleute haben, die euch Tribut entrichten und euch zahllose und sehr kostbare Steine darbringen werden, dazu Gold, die Federn des Quetzalvogels, Smaragde, Korallen, Amethyste, und Ihr werden Euch damit schmücken. Ihr sollt auch vielerlei Federn haben und Kakao und Baumwolle in vielen Farben. Das alles werdet ihr erleben!"

Manche sagen, dass Huitzilopochtli nicht von Anfang an unser Gott gewesen ist. Unser Stamm bestand aus sieben Sippen, und jede Sippe beriet ihre Angelegenheiten unter sich und wählte sich ihren eigenen Anführer. Und so sagen sie, jede unserer sieben Sippen hätte ihren eigenen Gott gehabt. Doch Huitzilopochtli war der größte unter ihnen, der Gott der Sonne und des Krieges.

Wir kamen durch viele Länder, manche waren öd und nicht besiedelt, andere waren bewohnt, und wir mussten mit den Einwohnern kämpfen. An manchen Orten blieben wir länger und bauten unserem Gott einen Tempel. Aber immer trieb es uns weiter. Oft mussten wir unsere Alten zurücklassen, wenn wir weiterzogen. Manchmal trennten sich auch Gruppen von unserem Stamm und schlugen eine andere Richtung ein. Dafür stießen andere zu uns, Jäger, die noch nie in Dörfern gelebt hatten.

Endlich kamen wir in das schöne Land zwischen den Bergen, das heute unseren Namen, den Namen der Mexica trägt. Hoch über beiden Meeren liegt es, geschützt und umgeben von Bergen. Ewiger Frühling herrscht hier, nur selten gibt es hier Frost, und wenn es im Sommer heiß ist, so bleiben die Nächte doch kühl. Quellen in den Bergen versorgen das Land mit Wasser, und am Grunde des Tales liegen fünf kühle Seen, umgeben von Dörfern und Städten.

Hier war einst ein mächtiges Reich gewesen, das Reich von Tula, der Stadt des Gottes Quetzalcoatl. Doch Quetzalcoatl, der Gott der Künste und des Kalenders, hatte seine Stadt verlassen und das Reich war zerfallen. Die Dörfer und Städte an den Lagunen waren klein, und sie hatten keinen gemeinsamen Herrscher. Jedes Volk lebte für sich in seiner Stadt, mit eigenen Sitten und eigenen Göttern.

Wir fanden ein Heim an einer Stelle, die Heuschreckenhügel genannt wurde, Chapultepec. Dort wählten wir zum ersten Mal einen einzigen Anführer für den ganzen Stamm. Denn wir mussten zu oft Kriege führen mit unseren Nachbarn, und brauchten einen kriegserfahrenen Häuptling. Unsere Nachbarn sorgten sich, als wir uns niederließen und vermehrten, und sie fielen über uns her. Wir verteidigten uns gut, doch als sie zu stark wurden, vertrieben sie uns. Unser Anführer wurde gefangengenommen und geopfert, und wir mussten uns unseren Nachbarn unterwerfen.

Die Herrscher von Culhuacan wiesen uns einen Ort an zwei Stunden von ihrer Stadt, wo es von Schlangen wimmelte. Dort sollten wir leben, denn sie hatten Angst vor uns, und wollten uns nicht in ihrer Nähe haben. Doch wir fingen die Schlangen und brieten sie, denn wir waren von unserer langen Wanderschaft gewohnt, mit Widrigkeiten fertig zu werden, und darum nannten sie uns Schlangenfresser. Doch sie hatten Respekt vor uns, weil wir überlebt hatten, wo keiner sonst überleben konnte. So konnten wir bald mit ihnen Handel treiben, sie heirateten unsere Töchter und wir die ihren und wir wurden verwandt miteinander. Als sie Krieg hatten mit ihren Nachbarn, da riefen sie uns zu Hilfe, und wir machten uns Waffen und retteten sie. Doch als sie sahen, wie gute Krieger wir waren, da bekamen sie Angst vor uns und dankten uns nicht. Da führten wir Krieg mit ihnen.

Wir mussten fliehen, und kamen nach Acatzintlan. Dort machten wir uns Flöße aus unseren Schildern und Speeren und fuhren über das Wasser auf eine kleine Insel im See. 

Da erschien Huitzilopochtli einem seiner Priester, und sagte ihm, wir sollten einen Feigenkaktus suchen, auf dem ein Adler sitzen würde. Dieser Platz sollte "Ort der Kaktusfrucht" heißen, Tenochtitlan, und dort sollten wir eine Stadt gründen. Wir suchten, und fanden den Adler auf dem Kaktus sitzen, und er verspeiste eine rote Kaktusfrucht, wie die Sonne die Herzen der Krieger verspeist. Da stachen wir Rasenstücke aus dem Boden, und schichteten sie zu einem Hügel auf dem wir Huitzilopochtli ein Gebetshaus aus Schilf errichteten.

"Hier", so sagte Huitzilopochtli zu uns, "hier werden wir uns zu Herren über alle Völker machen, über ihren Besitz, über ihre Söhne und Töchter. Hier werden sie uns dienen und Tribut zahlen; an diesem Ort wird die berühmte Stadt aufgebaut, die bestimmt ist, Königin und Herrin über alle anderen zu werden - wo wir eines Tages alle Könige und Fürsten empfangen werden, die kommen müssen, um der mächtigsten Stadt zu huldigen.

So waren wir wieder an einem Ort, der von Wasser umgeben war, wie unsere alte Heimat Aztlan.

Wie wir es von alters her gewohnt waren, teilten wir die Stadt in die heilige Zahl vier. Vier Viertel hatte die Stadt, und jedes Viertel war in Unterbezirke geteilt, die Calpulli hießen. Jeder Calpulli gehörte einer Sippe und hatte seinen eigenen Tempel für den Sippengott. Das Land gehörte der ganzen Sippe, und den einzelnen Familien wurde es nur geliehen.

Vögel und Fische gab es hier im Überfluss. Doch da das Land beschränkt war, legten wir Gärten im Wasser an. Wir flochten Wände aus Schilf, und schichteten zwischen diesen Wänden Wasserpflanzen und Schlamm auf, bis sie aus dem Wasser ragten. Dann konnten wir Bohnen und Mais darauf pflanzen.

Nach einigen Jahren kam es zum Streit, und ein Teil des Stammes zog aus, und gründete Tlatelolco auf einer nahen Insel.

So lebten wir zwischen Schilf und Binsen auf unserer Insel, und hatten weder Holz noch Steine. Seit unserem Auszug aus Aztlan waren zweihundert Jahre vergangen.

Wir unterwarfen uns niemand, denn unsere Stadt lag an der Grenze dreier Gebiete, der Tepaneken, der Acolhua und der Leute von Culhuacan, die alle rund um den See siedelten. Wir gingen auf ihre Märkte und handelten mit ihnen. Wir brachten ihnen Fische, Frösche und andere Wassertiere, und sie gaben uns Holz und Steine für unsere Häuser und Tempel.

Als unser Anführer und Oberpriester Tenoch starb, baten wir den Herrscher von Culhuacan, uns einen Herrn zu geben. Denn die Mexica waren verachtet und unbedeutend, und wir dachten, es würde unser Ansehen heben, den Sohn eines großen Fürsten zum Herrn zu haben. Wir baten ihn, uns Acamapichtli zum Herrn zu geben, der der Sohn eines Mexikaners und einer Culhua-Prinzessin war. Er war aber auch mit den Acolhua verwandt. Tlatelolco aber wählte sich einen Sohn des Tepanekenhäuptlings zum Herrn, sodass wir mit allen Staaten rund um den See verwandtschaftliche Beziehungen hatten. Acamapichtli regierte friedlich, er ließ Häuser, Wassergärten und Kanäle bauen.

Von allen Völkern rund um den See waren die Tepaneken die mächtigsten. Sie führten Krieg gegen andere Städte, und wenn sie sie besiegt hatten, verlangten sie Tribut von ihnen. Als sie immer mächtiger wurden, mussten auch wir ihnen Tribut zahlen und mit ihnen in den Krieg ziehen, wenn sie es verlangten.

Als unser Herrscher Acamapichtli starb, wählten unsere Führer seinen Sohn Huitzilihuitl, Kolibrifeder, zum Nachfolger, und der heiratete eine Enkelin des Tepanekenherrschers. So wurde unsere Lage besser, und die Tepaneken mussten uns achten. Huitzilihuitl führte Krieg mit den südlichen Ländern, wo es Baumwolle im Überfluss gab. So bekamen die Mexica die ersten Baumwollkleider, denn bisher hatten sie nur grobe Stoffe aus den Fasern der Agave gekannt. Dann eroberte er Cuauhtinchan, Chalco, Otumba, Tulancingo und noch andere Städte. Er begann den Krieg gegen Texcoco.

Sein Sohn war Chimalpopoca, der nach ihm zum Herrscher gewählt wurde. Er beendete den Krieg gegen Texcoco und eroberte die Stadt. Der Tepanekenherrscher übergab die Stadt den Mexica und sie mussten uns Tribut zahlen. Aber noch immer mussten auch wir Tribut an die Tepaneken bezahlen.

Doch als der Herrscher der Tepaneken starb, wollten wir nicht mehr Untertanen sein. Unsere Stadt war größer geworden, und wir lebten nicht länger in Hütten, sondern bauten uns Häuser aus Stein. Wir wollten nicht länger den Tepaneken dienen. Freilich, die kleinen Leute, die Bauern, fürchteten sich vor dem Krieg. Denn sie hatten die Macht der Tepaneken kennengelernt. Da sagten die Oberen - das waren die Verwandten des Herrschers, die Priester und die Anführer der Krieger -: "Wenn wir mit diesem Krieg keinen Erfolg haben, so geben wir uns in euere Hände. Ihr könnt euch dann an uns rächen und uns in schmutzigen Käfigen verkommen lassen." Darauf antwortete das Volk: "Und wir versprechen, euch zu dienen und für euch zu arbeiten, eure Häuser zu bauen und euch als unsere wahren Herren anzuerkennen, solltet ihr diesen Krieg gewinnen".

So verbündeten wir uns mit denen von Texcoco, mit denen wir früher Krieg geführt hatten, und kämpften gegen die Tepaneken. Hundertvierzehn Tage belagerten wir ihre Stadt. Dann eroberten wir sie. Ihr Herrscher Maxtla wurde geopfert und sein Herz herausgeschnitten. Dann wurde er begraben, wie es einem Herrscher  gebührt.

Nun hatten die Mexica viel Land erbeutet. Dieses Land wurde nun verteilt. Und entsprechend der Abmachung zwischen den Oberen und dem Volk, bekamen der Herrscher und die Oberen den größten Anteil vom Land, die Sippenverbände aber bekamen ganz wenig, nur soviel, dass sie ihre Tempel erhalten konnten. Manche sagen aber, diese Abmachung zwischen dem Volk und den Oberen hätte es nie gegeben, und die Oberen hätten sie nur erfunden.  Das Volk sagte, das sei ungerecht, und früher hätte aller Boden dem ganzen Stamm gehört, und alle hätten das gleiche Recht gehabt. Aber konnten sie sich wehren? Die Krieger hatten den Krieg gewonnen und das Reich vergrößert. Und wer sollte im Lande mächtig sein? Die Bauern, die ein bisschen Mais aus der Erde ziehen? Oder die Krieger, die das Reich vergrößern, und andere Völker tributpflichtig machen, und die dafür sorgen, dass immer Gefangene da sind, um bei den Festen geopfert zu werden, damit die Götter uns nicht zürnen und nicht die Welt vernichten?

Als wir noch herumzogen und arm und verachtet waren, da waren wir alle gleich gewesen, das stimmt. Jeder war Krieger und Bauer und zugleich. Aber wie soll man Kriege führen und Städte erobern, wenn alle durcheinander reden und jeder ein Ratgeber sein will? Und sollen die Priester, die Richter, die Beamten etwa auch den Boden aufhacken? Wie sollen sie da ihr Amt ausüben?

Nein, es ist eine gerechte Ordnung: jeder junge Mann nimmt am Kriegsdienst teil. Wenn der Knabe zehn Jahre alt ist, schneidet man ihm die Haare vom Kopf, und nur hinten am Nacken bleibt ein Schopf stehen. Wer zum ersten mal einen Gefangenen macht, und wenn es auch mit Hilfe von einigen Kameraden ist, der darf den Schopf abschneiden. Er ist ein Iyac. Aber erst, wer allein vier feindliche Krieger gefangengenommen hat, der wird ein Tequia. Und stehen einem Tequia nicht alle Ämter und Ehren offen? Ein Tequia bekommt einen Teil der Steuern, die der Herrscher einhebt, er darf Federn und lederne Armreifen tragen, er kann ein Jaguar-Ritter oder ein Adler-Ritter werden. Ein Tequia kann vom Kaiser für hohe Ämter ausgewählt werden. Aber wer es nicht schafft, nach ein oder zwei Feldzügen ein Tequia zu werden, der muss auf den Acker. Er muss Steuern zahlen und wird für die öffentlichen Arbeiten herangezogen, er muss die Straßen reinigen oder die Dämme reparieren, und muss auf den Äckern der hohen Beamten arbeiten. Er darf keine Baumwollgewänder und keinen Schmuck tragen. Ist das nicht gerecht?

Wer sich aber auszeichnet als Krieger und als Beamter, der wird beschenkt mit Kleidung, Schmuck und Land. Die anderen müssen für ihn arbeiten und seine Speicher mit Mais füllen.

Wir sind ein großes und ein reiches Volk geworden. Auf dem Markt gibt es Mais, Gemüse, Geflügel, Frauen kochen auf kleinen Feuern vielerlei Gerichte, die man von ihnen kaufen kann, Händler bieten Stoffe, Schuhwerk, Getränke, Felle, Geschirr, Seile, Pfeifen und allerhand Werkzeuge an. Die Fischer bringen Fische, Schnecken und Krebse vom See in die Stadt. Unsere Kaufleute bringen aus den fernsten Gebieten grüne Jade und Smaragde, Schildkrötenpanzer und Jaguarfelle, Bernstein und Papageienfedern. Die Städte, die wir erobert haben, liefern uns als Tribut jedes Jahr 52.000 Tonnen Lebensmittel, endlos sind die Kolonnen der Träger. 123.000 Baumwollgewänder müssen die Tributpflichtigen liefern, 33.000 Bündel Federn. Die Provinz Yoaltepec schickt uns jährlich vierzig Goldreifen von Fingerdicke, Tlachquiauco muss zwanzig Kürbisflaschen Goldstaub abliefern. Aus Xilotepec kommen jedes Jahr 16.000 Frauenkleider, 16.000 Männerkleider, zwei Kriegertrachten mit Schild und Kopfschmuck und vier lebendige Adler. Aus Tochpan kommt Pfeffer, aus Tochtepec kommt Gummi und Kakao. Die Provinzen liefern uns Mais, Getreide, Kakao, Honig, Salz, Pfeffer, Tabak, Möbel und Geschirr. Sie müssen Gold von der Südküste herbeischleppen, Türkis und Jade von der Ostküste. Huaxtepec liefert Papier, Cihuautlán Muscheln. 

Haben wir nicht viele Städte zusammengeschlossen zu einem großen Reich? Unsere Steinschneider, die aus den Edelsteinen den Schmuck machen, stammen sie nicht aus Xochimilco? Und die Federflechter, die den herrlichen Kopfschmuck erzeugen, sind sie nicht aus Amantlan? Haben wir sie nicht besiegt und ihr Haus in Flammen aufgehen lassen? Aus dem fernen Süden aber stammen die Goldschmiede.

Unser Kaiser Moctezuma ist in seinem Palast von 3000 Hofbediensteten umgeben, nicht zu reden von all seinen Adlern, Schlangen und Jaguaren, die jeden Tag 500 Truthähne fressen. Im Monat Uey tecuihuitl, wenn die Armen ihre Vorräte verzehrt haben, öffnet der Kaiser seine Speicher und lässt Speise und Trank unter das Volk verteilen. 700.000 Menschen leben in der Stadt Mexico-Tenochtitlan, wir haben die Inseln befestigt, Dämme ins Wasser gebaut, Brücken über die Kanäle gelegt, Tempel und Paläste haben wir erbaut, einen Aquädukt, der Trinkwasser von Chapultepec in die Hauptstadt bringt. Wenn der Kaiser einen Tempel bauen lässt, liefern die Städte ihm Steine und Kalk. Tausende Arbeiter muss der Kaiser ernähren, die den Göttern den Tempel errichten. Gärten und Bäder haben unsere Kaiser errichten lassen, und Tiere und Pflanzen aus dem ganzen Reich hier versammelt. Wenn der Kaiser ein Fest feiert, lädt er die Herrscher der feindlichen Städte ein, und beschenkt sie mit Schmuck und reichen Kleidern. Wer ist so reich, so mächtig wie wir, die Mexica? Als unser Kaiser Ahuitzotl den Aufstand der Huaxteken niederschlug, da dauerten die Feiern viele Wochen. Allein die Opferung der Gefangenen dauerte vier Tage! Kein Volk ist größer, kein Volk ist stärker als das unsere!

Aber:

Wie sie sagen, wohnen wir hier nicht,
noch sind wir gekommen, um hier zu verweilen.
Oh, ich muss die schönen Blumen lassen,
Ich muss hinunter auf der Suche nach dem Jenseits.
Oh, für einen Augenblick wurde mein Herz müde:
die schönen Lieder
sind uns nur geliehen.

Die Götter brauchen Opfer. wir müssen die Götter mit Opfern ernähren, damit sie die Welt nicht vernichten. Ich tanze. Die Trommeln schlagen, die Flöten klagen, ich tanze. Immer schneller, tanze ich, immer wilder. Bald werde ich bei Huitzilopochtli sein. Nein, ich selbst bin Huitzilopochtli, trage ich nicht sein Gewand, bin ich nicht gekleidet wie er? Hier steht der Priester mit dem Messer aus schwarzem Stein. Nun bin ich an der Reihe.

Stau

Wo viele Menschen zusammen sind, passieren immer wieder Dinge, die keiner vorausgesehen oder geplant hat. Ja, es können sogar Dinge passieren, die keiner will. Und trotzdem sind es die Menschen selber, die diese Dinge  tun. Das klingt unglaublich?

Denk zum Beispiel an den Stau auf unseren Autobahnen. Will denn jemand den Stau? Will denn irgendjemand gerne auf einer heißen, staubigen Autobahn herumstehen und schwitzen? Nein, natürlich nicht. Jeder will nur möglichst schnell irgendwohin kommen. Und genau deswegen stecken sie dann alle im Stau. Und zwar regelmäßig und immer wieder.

Frieden beginnt bei dir selbst

Es gab einmal eine Stadt, in der die Leute sehr unter Verkehrsstaus litten. Es gab nicht viele Ampeln und ein Grund für die ewigen Staus war dieser: Wenn Autofahrer sich einer Kreuzung näherten und sahen, dass die Kolonne hinter der Kreuzung zum Stillstand kam, dann quetschten sie trotzdem ihr Auto noch auf die Kreuzung, damit sie dann, wenn die Kolonne sich wieder bewegte, nicht vom Querverkehr blockiert werden würden. Auf diese Weise blockierten sie natürlich den Querverkehr. Was dann weiter passierte, ist mit Worten schwer zu erklären. Eine Computeranimation könnte das in einer Minute klar machen. Versuchen wir es trotzdem. Alle Straßen, die sich von Norden nach Süden erstreckten, wurden Straße genannt, und alle, die sich von Westen nach Osten erstreckten Avenue. Sagen wir also, Frau Kumar fährt die 5. Straße entlang nach Norden und nähert sich der Kreuzung 5. Straße und Avenue D. Sie sieht, dass die Kolonne hinter der Kreuzung langsamer wird, aber sie fährt trotzdem in die Kreuzung ein und muss mitten auf ihr stehen bleiben. Auf diese Weise blockiert sie den Verkehr von West nach Ost und von Ost nach West auf Avenue D. So geschieht es, dass Frau Miller, die auf Avenue D nach Westen unterwegs ist, in die Kreuzung mit der 4. Straße einfährt und dort den Verkehr blockiert, und Frau Szymanski, die auf Avenue D nach Osten unterwegs ist, in die Kreuzung mit der 6. Straße einfährt und dort den Verkehr blockiert. Als nächste werden die Kreuzungen der 6. Straße mit Avenue C und E blockiert und die Kreuzungen der 4. Straße mit Avenue C und E und so weiter... Und der Stau erfasst schnell die ganze Stadt.

"Auf unseren Straßen herrscht Krieg!" seufzte Frau Kumar jeden Abend, wenn sie von der Arbeit heim fuhr. Eines Tages erinnerte sich Frau Kumar an den Spruch: Frieden beginnt bei dir selbst. Sie beschloss, ihren Wagen nicht mehr auf die Kreuzung zu quetschen. Aber wenn sie vor einer Kreuzung anhielt, weil sie sah, dass die Kolonne dahinter nicht weiter kam, dann begannen die Fahrer hinter ihr zu hupen und manche zeigten ihr den Vogel oder drohten mit der Faust. Denn wenn sie sich nicht auf die Kreuzung quetschte, dann konnte es lange dauern, bis der Querverkehr ihr eine Chance gab, die Kreuzung zu queren, und dann mussten natürlich auch die Fahrer hinter ihr warten. Aber schlimmer als der Zorn der anderen Fahrer war etwas anderes: Wenn sie nicht jeden Vorteil, der sich ihr bot, ausnutzte, dann kam sie eine halbe Stunde später zu Hause an als sonst. Das machte sie traurig, denn ihre Familie musste dann auf das Abendessen warten und die Kinder brauchten ihre Hilfe bei den Hausübungen und überhaupt hatte sie nach der Arbeit so viel im Haushalt zu tun, dass sie es sich einfach nicht leisten konnte, diese halbe Stunde zu verlieren. Sie fand, es war ihre Pflicht gegenüber ihrer Familie, so schnell wie möglich nach Hause zu fahren. Also gab sie ihren schönen Vorsatz nach ein paar Tagen auf und fuhr wieder so wie alle anderen.

Was Frau Kumar nicht wusste, war das: Zwei Wochen vorher hatte Frau Miller genau denselben Gedanken gehabt. Auch sie hatte vor Kreuzungen angehalten um den Querverkehr nicht zu blockieren. Und man hatte auch sie angehupt und ihr den Vogel gezeigt und mit der Faust gedroht. Und auch sie hatte eine halbe Stunde verloren, in der sie für ihre Familie hätte da sein sollen. Also hatte auch Frau Miller aufgegeben, genau so wie Frau Kumar. Und vier Wochen früher hatte Frau Szymanski genau dasselbe erlebt und hatte auch wieder aufgegeben.

An einem Samstag Nachmittag ging Frau Kumar mit den Kindern auf den Spielplatz. Sie setzte sich auf eine Bank und sah den Kindern zu, wie sie auf der Schaukel und dem Klettergerüst herumturnten. Zufällig setzten sich kurz darauf Frau Miller und Frau Szymanski auf dieselbe Bank und die drei Damen begannen, sich übers Wetter zu unterhalten, dann über die Kinder, die Lebensmittelpreise und die schreckliche Verkehrssituation in der Stadt.

"Auf unseren Straßen herrscht Krieg!" seufzte Frau Kumar.

"Diese Stadt ist ein Irrenhaus!" sagte Frau Miller.

"Die Leute sind so egoistisch!" rief Frau Szymanski aus.

Da beugte sich Frau Fukuda, die auf der nächsten Bank saß, zu ihnen herüber und sagte: "Entschuldigen Sie, dass ich mich einmische, aber ich meine, dass Frieden bei einem selbst beginnt. Ich habe beschlossen, dass ich meinen Wagen von nun an nicht mehr auf die Kreuzung quetschen werde. Irgend jemand muss doch schließlich damit anfangen, das Vernünftige zu tun."

Da begannen die drei anderen Damen alle auf einmal auf Frau Fukuda einzureden und von ihren Erfahrungen zu erzählen.

"Es ist hoffnungslos", seufzte Frau Kumar.

"Es ist eine Tragödie" rief Frau Miller aus.

"Man kann einfach nichts machen!" jammerte Frau Szymanski.

"Aber wir haben eine Verpflichtung gegenüber unseren Mitmenschen", sagte Frau Fukuda. "Wir können doch nicht so selbstsüchtig sein!"

"Ja schon. Aber wir haben auch eine Verpflichtung gegenüber unseren Familien", sagte Frau Kumar. "Ich fahre doch nicht aus Egoismus so schnell ich kann nach Hause. Ich tue das, weil ich bei meiner Familie sein will. Ich weiß schon, dass ich ein bisschen langsamer fahren sollte, damit die anderen schneller nach Hause kommen. Aber was ist mit meiner Familie? Es wäre nicht fair ihr gegenüber!"

"Es ist tragisch", sagte Frau Miller. "Wenn wir vernünftig fahren, verlieren wir jeden Tag eine halbe Stunde. Aber wenn alle vernünftig fahren würden, dann würden alle eine halbe Stunde früher zu Hause sein."

"Ja, es ist eine Tragödie", sagte Frau Szymanski. "Selbstlos und vernünftig zu sein hilft nicht. Es macht nur meine Familie traurig und die Fahrer hinter mir böse. Irgendwas stimmt nicht mit diesem Frieden beginnt bei dir selbst."

"Ich denke, wir sollten eine Kampagne beginnen!" sagte Frau Fukuda. "Sehen Sie, Sie alle hatten denselben Gedanken, aber nicht zur selben Zeit. Deshalb hatten Sie keinen Erfolg. Aber wenn wir vier morgen anfangen, vernünftig zu fahren..."

"...dann sind wir vier in einer Stadt von Millionen!" sagte Frau Kumar.

"Also, dann werden wir mit unseren Ehemännern sprechen. Wenn die mitmachen, dann sind wir schon acht. Und wenn wir mit unseren Nachbarn sprechen..."

"Wir müssen Leserbriefe an die Zeitungen schreiben!" sagte Frau Miller.

"Und Flugzettel verteilen!"

"Und Autoaufkleber: Ich halte vor der Kreuzung, damit DU früher nach Hause kommst."

"Nein, es sollte heißen: damit wir ALLE früher nach Hause kommen!"

"Und wir sollten in Talkshows im Fernsehen auftreten!"

So tauschten die vier Damen ihre Telefonnummern aus und begannen mit der Kampagne. Ihre Kinder und sogar ihre Ehemänner halfen ihnen, Flugblätter zu entwerfen und Grafiken anzufertigen und Leserbriefe an die Zeitungen zu schreiben und der älteste Sohn von Frau Kumar machte eine Computeranimation, die zeigte, wie sich der Stau über die ganze Stadt ausbreitet, und sie schickten Emails an alle ihre Freunde und Bekannten und fanden bald heraus, dass viele Leute sich genau dieselben Gedanken über den Krieg auf den Straßen gemacht hatten, aber alle zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten, und alle hatten irgendwann wieder aufgegeben.

Und die Leute fingen an, einander an den Autoaufklebern zu erkennen, und als sie sahen, dass viele Autos die Aufkleber hatten, fürchteten sie sich nicht mehr davor, angeschrien zu werden, wenn sie vor einer Kreuzung anhielten, um den Querverkehr durchzulassen. Und dann eines Tages merkten die Leute in einem Stadtteil, dass sie wirklich schneller vorankamen, wenn alle langsamer fuhren. Und als sich die Neuigkeit verbreitete, änderte sich schnell die Stimmung in der Stadt und jetzt hupten und schimpften die Leute, wenn einer sich auf die Kreuzung quetschte. Aber die Vernünftigeren gingen hin und gaben ihm ein Flugblatt.

"Nun ja", sagte Frau Kumar, "es stimmt schon: Frieden beginnt bei dir selbst. Aber ein bisschen Organisation gehört auch dazu."

Zur selben Zeit wurden in der Nachbarstadt Bürgermeisterwahlen abgehalten. Einer der Kandidaten versprach das Verkehrsproblem zu lösen und wurde gewählt. Der neue Bürgermeister verdoppelte die Steuern, stellte eine Menge Polizisten an und ließ an jeder Kreuzung eine Kamera installieren. Und wer eine Kreuzung blockierte, musste Strafe in der Höhe eines Monatslohns zahlen und wenn er nicht zahlen konnte, musste er ins Gefängnis. Auch diese Methode löste das Verkehrsproblem. Und schnell auch noch!

Die zwei Gefangenen

Einmal saßen einige Freunde von Herrn Balaban beisammen, da sagte einer: "Wir sind doch alle arme Hunde. Wir sollten einen Verein gründen, um uns gegenseitig zu helfen."

"Lasst mich in Ruhe mit Vereinen", sagte ein anderer. "Wenn jeder sich selbst hilft, dann ist allen geholfen."

Eine Weile stritten die Freunde, ob das wahr sei, was der letzte gesagt hatte. Dann fragten sie Herrn Balaban nach seiner Meinung.

"Manchmal stimmt es, denke ich, und manchmal stimmt es nicht. Es kommt immer darauf an, wie die Handlungen der Menschen miteinander verknüpft sind. Ich werde euch zwei Geschichten erzählen

Die erste Geschichte ist eigentlich nicht besonders interessant: Ein Mann lebte mit seinen vier Söhnen in der Mitte eines großen Nusswalds. Eines Tages gab er jedem seiner Söhne einen Sack und sagte: "Geht in den Wald und sammelt Nüsse. Du gehst nach Norden, du nach Süden, du nach Osten und du nach Westen. Wenn ihr eure Säcke gefüllt habt, bringt sie in die Vorratskammer und leert sie in den großen Korb, der dort steht. Dann, wenn alle zurück sind, werde ich die Nüsse auf euch aufteilen.
Die vier Burschen, alle schon groß und kräftig, gingen also jeder für sich in den Wald. Jeder sammelte ein paar Nüsse und legte sich dann aufs eine Wiese und dachte sich: 'Ach, was soll ich mich anstrengen, ich bekomme ja doch den Anteil von dem, was meine Brüder sammeln.'

Als alle am Abend heim gekommen waren und der Vater die Nüsse aufteilen wollte, waren da gerade vier Handvoll im Korb, für jeden Bruder eine Handvoll. In diesem Fall wäre es wohl besser gewesen, wenn jeder der vier für sich selbst gesammelt hätte. Dann hätte jeder Bruder sicher einen ganzen Sack voll Nüsse bekommen und es hätte gestimmt, dass allen geholfen ist, wenn jeder sich selbst hilft.

Aber oft sind die Schicksale der Menschen so miteinander verknüpft, dass jeder seinen eigenen Vorteil sucht und dabei den Schaden für sich und die anderen vergrößert."

"Wie kann denn das sein?" fragten die Freunde.

Da gab ihnen Herr Balaban das folgende Rätsel auf:

"In Samarkand wurden einmal zwei Diebe gefangen, die eine Gans gestohlen hatten. Timur Lenk ließ sie in zwei verschiedene Zellen sperren, so dass sie sich nicht miteinander verständigen konnten. Dann ging er zum ersten und sagte: ‘Höre, ihr zwei habt eine Gans gestohlen, dafür gebühren euch 20 Stockhiebe. Es ist nicht angenehm, aber man überlebt es. Nun weiß ich aber sicher, ihr habt nicht nur diese Gans gestohlen, sondern auch zwei goldene Becher aus meinem Palast. Dafür könnte ich euch hinrichten lassen. Das hätte für mich nur einen Nachteil: Ich würde so meine goldenen Becher nicht wiederbekommen. Ich könnte das Geständnis aus euch herausfoltern, aber ich habe mir etwas anderes ausgedacht. Pass genau auf: Wenn du den Diebstahl der Becher gestehst, und verrätst, wo ihr sie versteckt habt, dann lasse ich nur deinen Komplizen hinrichten, dich aber lasse ich laufen. Ihm werde ich freilich dieselbe Möglichkeit bieten. Wenn er gesteht, und du nicht, dann lasse ich ihn laufen, und du wirst hingerichtet. Es könnte natürlich sein, dass ihr beide gesteht. In diesem Fall könnte ich natürlich keinen von euch laufen lassen. Aber ich würde gnädig sein und jedem von euch nur die rechte Hand abhacken lassen.’

‘Und wenn keiner von uns gesteht?’ fragte der Gefangene, der übrigens wirklich mit seinem Komplizen gemeinsam auch die Becher gestohlen hatte.

‘Nun’, sagte Timur, "dann würde es bei den 20 Stockschlägen für die gestohlene Gans bleiben.’

Was", fragte Herr Balaban seine Freunde, "sollte der Gefangene eurer Meinung nach tun?"

"Und sie können sich nicht miteinander verständigen?"

"Nein", sagte Herr Balaban, "Timur hat darauf geachtet, dass sie sich auf keine Weise verständigen können."

"Er sollte den Mund halten und darauf vertrauen, dass sein Kumpel auch nichts sagt", sagte einer.

"Wie kann er darauf vertrauen", sagte ein anderer. "Es ist ganz sicher, dass sein Kumpel gestehen wird."

"Warum denn das?"

"Weil es für den Kumpel auf jeden Fall besser ist, zu gestehen. Pass auf, nennen wir die zwei Ahmed und Bülent. Also: Wenn Ahmed gesteht, ist es für Bülent besser, auch zu gestehen, sonst wird er hingerichtet. Wenn Ahmed nicht gesteht, ist es für Bülent auch besser, zu gestehen, denn dann wird er freigelassen. Also weiß Ahmed, dass Bülent gestehen wird. Also wird auch Ahmed gestehen, denn sonst wird er hingerichtet. Sollte es aber sein, dass Bülent nicht gesteht, umso besser für Ahmed, denn dann wird er freigelassen."

"Ja, aber das Ergebnis ist, dass beiden die Hand abgehackt wird. Wo sie doch beide mit zwanzig Stockschlägen hätten davonkommen können."

So debattierten sie noch stundenlang, aber sie konnten zu keinem anderen Ergebnis kommen.

"Und das eben habe ich gemeint", sagte Herr Balaban. "Indem sie ihren eigenen Vorteil suchen, vergrößern sie den Schaden für beide."

"Aber was hätten sie denn tun sollen, deiner Meinung nach?"

"Sie hätten miteinander reden sollen und sich gegenseitig versprechen, zu schweigen", sagte Herr Balaban.

"Aber du hast doch gesagt, sie können nicht miteinander reden!"

"Sie hätten eben einen Wärter bestechen sollen, damit er Briefe oder Botschaften hin- und herträgt. Sie hätten meinetwegen einer Maus einen Zettel an den Schwanz binden sollen oder einen dressierten Papagei von Zelle zu Zelle fliegen lassen. Sie hätten alles versuchen sollen, um sich miteinander zu verständigen, denn wenn die Menschen es nicht schaffen, sich zu verständigen, dann wird es immer so bleiben, dass sie den Vorteil für sich suchen und dabei den  Schaden für alle vergrößern."

Gerechtigkeit

Also Freunde, ich muss euch etwas erzählen, und ich hoffe ihr glaubt es mir. Und wenn ihr es nicht glaubt, umso schlimmer für euch. Also hört zu: Vor langer, langer Zeit, lebte auf einem kleinen Kontinent hier auf unserer Erde (der Kontinent liegt inzwischen vollkommen unter Wasser, also werdet ihr ihn auf keiner Landkarte finden - und zu der Zeit, als der Kontinent noch da war, waren die Landkarten noch nicht erfunden, darum werdet ihr ihn auch auf den alten Landkarten nicht finden) also, auf diesem kleinen Kontinent (der der siebente gewesen wäre, wenn damals schon jemand Kontinente gezählt hätte, das tat aber keiner, weil noch kein einziger Kontinent entdeckt worden war, so dass alle Leute auf all den Kontinenten dachten, dass ihr Kontinent der einzige Kontinent wäre, und warum sollten sie etwas zählen, von dem es sowieso nur eines gab) - Jedenfalls, was ich sagen wollte, war: auf diesem kleinen Kontinent, der nicht der siebente war und auch nicht der erste, sondern einfach der Kontinent, lebte ein, sagen wir einmal, recht eigenartiges Volk. Diese Leute waren, muss man leider sagen, ziemlich verrückt. Und zwar auf eine ganz besondere Art. Nicht vielleicht, dass sie dumm waren. Keineswegs. Sie hatten zum Beispiel das Rad erfunden, lange bevor es auf irgend einem der anderen Kontinente erfunden worden war. Und gleich nach dem Rad hatten sie das Feuer erfunden und Pyramiden und Mobiltelefone und Fernsehen. Nein, wie gesagt, sie waren auf eine ganz besondere Art verrückt. Wie soll ich es erklären? Also, sagen wir zum Beispiel, dass sie eine Tante zu Besuch hatten. Diese Tante rief vielleicht mit ihrem Mobiltelefon an und sagte:  "Hallo, ich komm euch über die Feiertage besuchen, nur ein paar Tage, freut ihr euch nicht, eure alte Tante wiederzusehen?"

Und dann packte die Familie, die eigentlich über die Feiertage ans Meer hatte fahren wollen, ihre Sachen wieder aus und stellte das Rad wieder in die Garage und wartete auf die Tante. Nehmen wir an, die Feiertage waren schon längst vorbei und die Tante war jetzt schon sechs Wochen auf Besuch und es sah nicht so aus, dass sie bald heimfahren würde. Und die ganze Familie musste zum Frühstück Tee trinken, weil Tante fest davon überzeugt war, dass Kaffee gesundheitsschädlich ist, und Papa hatte das Rauchen aufgeben müssen, weil Tante den Rauch nicht vertrug, und die Kinder mussten von eins bis vier leise sein weil Tante da ihr Nachmittagsschläfchen hielt. Also diese Leute hätten so eine Tante niemals hinausgeschmissen, ja sie hätten nicht einmal einen Lippenstift genommen und der kleinsten Tochter rote Tupfen ins Gesicht gemalt und gesagt, dass sie Scharlach hätte, damit die Tante davonlief. Nein, diese Leute packten einfach still ihre Sachen, holten das Rad aus der Garage, gaben Tante die Hausschlüssel und lebten fortan in einem Zelt am Strand, wo sie Kaffee trinken und Zigaretten rauchen und zwischen eins und vier herumlärmen konnten bis sie schwarz waren.

Oder sagen wir, in einer Schule wurde eine neue Direktorin ernannt und eine der Lehrerinnen regte sich auf und sagte: "Warum haben sie nicht mich zur Direktorin gemacht, ich bin viel besser als sie!" So einer hätten sie nie gesagt: "Na ja, sie hat mehr Erfahrung als du, und außerdem hat sie in den Ferien immer Kurse besucht und die hast dir nur die Fußnägel lackiert." Nein, stattdessen schrieben sie an den Landesschulrat: "Diese Frau macht uns allen Kopfweh mit ihrem Gejammer, bitte ernennen sie sie zur Direktorin, damit sie uns nicht mehr auf die Nerven geht!" Und meistens unterschrieb sogar die Kollegin, die zur Direktorin ernannt worden war, den Brief.

Oder wenn ein Bub seine Aufgaben nicht konnte und nur schlechte Noten bekam, dann ließen seine Lehrer ihn nicht sitzen bleiben. Stattdessen sagten sie: "Ach, aber er hat so ein nettes Lächeln und außerdem würden sich seine Freunde kränken, wenn er nicht mehr bei ihnen wäre, also was macht es, wenn seine Rechtschreibung schlecht ist und er die Namen der Kontinente nicht kennt, die ohnehin noch gar nicht entdeckt sind.

Ich könnte euch noch viel darüber erzählen, wie verrückt diese Leute waren. Wenn auf einer Kreuzung zwei Räder zusammenstießen, dann blieben die Leute nicht stehen um einander anzuschreien: "Ich hab's gesehen, wie er die Gasse heruntergekommen ist, und er hat sein Rad viel zu schnell gerollt. Bitte, mein Herr, wenn Sie vor Gericht gehen können Sie mich als Zeugen angeben, hier ist mein Name und meine Adresse!" Stattdessen schrien sie nur die Fahrer an: "Wen kümmert das, wer schuld ist, räumt bloß eure verdammten Räder aus dem Weg, damit wir unsere weiterrollen können, der Himmel weiß, warum wir sie überhaupt erfunden haben!"

Jeder wird verstehen, dass diese verrückte Einstellung die Leute nicht weiterbrachte. Sie mussten sich immer mit dem Zweitbesten begnügen, im Kino hatten immer alle die schlechtesten Sitze, an der Fleischtheke im Supermarkt kamen sie nie an die Reihe, sie wurden nie Schuldirektorin, sondern leben in Zelten am Strand und ruinierten ihre Gesundheit mit Kaffee und Zigaretten und lärmenden Spielen.

Da kam eines Tages ein Zauberer den Kontinent besuchen. Sein Name war: Der Große Belloni, und als er mit seinem fliegenden Teppich auf dem Marktplatz landete, sagte er: "Ich grüße euch, Bewohner dieses Kontinents, ich bin Der Große Belloni, ich habe diesen Kontinent entdeckt, und ich werde ihn nach seinem Entdecker Bellonia nennen."

Die Leute waren ein bisschen erstaunt, denn sie hatten immer gedacht sie hätten den Kontinent entdeckt, aber der Zauberer erklärte ihnen, dass man etwas, was man immer schon gekannt hat, nicht entdecken kann. Und die Leute dachten: Na gut, es hätte auch Gulbrannsonia oder Herschkowitzia sein können, da ist Bellonia noch gar nicht so schlimm.

Der Zauberer sah sich auf dem Kontinent, den er entdeckt hatte, um, und merkte bald, was mit seinen Bewohnern los war. "Ihr seid kluge Leute", sagte er zu ihnen, "in euch steckt etwas, das habe ich gleich gemerkt. Eigentlich fehlen euch bloß zwei Dinge." Als die Leute wissen wollten, was das für zwei Dinge sein sollten, sagte er: "Tja, das erste sind Wagen." Und er zeigte ihnen, wie sie eine Art hölzerne Kiste an den Rädern befestigen konnten, so dass sie sie dazu benutzen konnten, Dinge von einem Ort zum anderen zu bringen. Die Leute experimentierten eine Weile mit einem Rad oder mit sieben Rädern, aber bald fanden sie heraus, dass die ideale Zahl von Rädern so um die zwei, drei oder vier lag. Von da war es nicht schwer die Sache weiterzutreiben bis zum Automobil, der Dampfmaschine, der Eisenbahn, und dann fand jemand heraus, dass man einen Esel vor den Wagen spannen konnte, was viel weniger Lärm machte als alle die anderen Methoden den Wagen fortzubewegen.

"Und was ist das zweite?" fragten sie den Zauberer.

"Tja, die zweite Sache, die dem Fortschritt bei euch im Weg steht, ist, dass ihr keinen Sinn für Gerechtigkeit habt."

"Was ist denn das?" fragten die Leute. "Ist das so etwas wie die hölzerne Kiste?"

"Nein", sagte der Zauberer, "das ist kein Ding, das ist ein Prinzip."

"Aha!" sagte die Leute und nickten mit den Köpfen, als ob sie verstanden hätten, aber in Wirklichkeit hatten sie keine Ahnung, was ein Prinzip war.

"Es heißt ungefähr, dass man jedem genau das gibt, was ihm gebührt, nicht mehr und nicht weniger."

"Aber das tun wir ja!"

"Nein. Ihr gebt den Leuten nur, was sie wollen, damit sie aufhören zu quengeln. Und wenn sie nicht quengeln, dann kriegen sie gar nichts."

"Na ja, vielleicht wollen sie es nicht genug, um zu quengeln. Jedenfalls, wer weiß besser, was jemand gebührt, als er oder sie selber?"

Der Zauberer versuchte es zu erklären, aber nach einer Weile gab er erschöpft auf.

"Passt auf", sagte er, "wollt ihr jetzt Gerechtigkeit oder nicht? Es kostet mich nur einen Wink mit meinem Zauberstab, dann wisst ihr, was ich meine und ich erspare mir die Halsschmerztabletten."

"Na ja", sagten sie, "wenn es dem Fortschritt dient..."

Also wedelte der Zauberer kurz mit seinem Zauberstab, dann stieg er auf seinen fliegenden Teppich und sauste davon, um noch mehr Kontinente zu entdecken, die er zählen und benennen konnte. Er hatte sich schon ganz fantastische Namen ausgedacht wie Bellonia II und Bellonia III, und wollte so schnell wie möglich die passenden Kontinente dafür finden.

Sobald der Zauberer seinen Stab geschwungen hatte, merkten die Bellonier - wie sie sich jetzt nannten - sofort, was der Zauberer gemeint hatte und schüttelten die Köpfe, schlugen sich mit der Hand auf die Stirn und sagten: "Wie haben wir nur so verrückt sein können?"

Sie packten sofort ihre Zelte zusammen und gingen heim, um ihre Häuser zurückzufordern. Aber Tantchen hatte sich schon so lange dort aufgehalten, dass sie jetzt praktisch dort lebte und sie sagte: "Was fällt euch ein, ihr habt mich vorsätzlich hier zurückgelassen und mir das Haus übergeben. Ich weigere mich strikt, es zu verlassen!" Und endlose Streitereien begannen um Dinge wie "mündlicher Vertrag" und "Gewohnheitsrecht" und so weiter.

Als nächstes mussten die Bellonier natürlich ein Gericht haben. Aber sie konnten sich nicht einigen, wer das Recht haben sollte, Recht zu sprechen, und so beschlossen sie, sich jeden Vormittag um zehn zu treffen, um die Fälle zu diskutieren.

Der erste Fall war der von zwei Brüdern, deren Vater war gestorben und hatte ihnen nur einen Esel hinterlassen. Jeder von ihnen sagte, dass er den Esel brauchte um seine Sachen zu tragen und den Wagen zu ziehen. Der Fall war leicht zu lösen, fanden die Bellonier. Sie entschieden, dass der Esel in zwei genau gleiche Hälften geschnitten werden und jeder Bruder eine Hälfte bekommen sollte. Die Brüder protestierten und sagten, dass ein halber Esel zu gar nichts gut sei, denn ein halber Esel könne nicht einmal einen halben Wagen ziehen, aber man sagte ihnen, dass die Teilung sehr genau gewesen sei und sie keinen Grund hätten sich zu beklagen.

Die Brüder fluchten und verzogen sich. Die nutzlosen Eselshälften ließen sie liegen.

Der nächste Fall war schon schwerer zu lösen. Es ging um einen Mann, der sich betrunken und eine Rauferei angefangen hatte. Dabei hatte er dem anderen Mann ein Auge ausgeschlagen. Soweit war das kein Problem. Die Bellonier entschieden, dass das Opfer dem Übeltäter auch ein Auge ausschlagen sollte, und dann sollte jeder dem anderen ein Glasauge kaufen. "Denn das", sagten sie, "ist Gerechtigkeit: Auge um Auge, Zahn um Zahn!"

Aber am nächsten Tag wurde der Mann wieder vors Gericht gebracht, weil er sich schon wieder betrunken und einem anderen Mann das Auge ausgeschlagen hatte.

"Na und, wo ist das Problem?" sagten welche. "Wir haben gestern einen ganz gleichen Fall verhandelt. Wir können das gleiche Urteil wieder fällen. Auge um Auge!"

"Aber er hat ja nur mehr ein Auge!" sagten andere. "Wenn wir sein Auge nehmen, wird er blind sein, aber sein Gegner braucht nur ein Glasauge und kann ein fast normales Leben führen. Jemandem sein einziges Auge nehmen ist nicht dasselbe, wie jemandem ein Auge nehmen, der zwei hat."

"Aber irgend etwas müssen wir ihm nehmen", sagten andere, "sonst wird er ewig herumlaufen und anderen Leuten die Augen ausschlagen!"

"Schneiden wir ihm halt eine Hand ab!" schlug jemand vor, aber andere widersprachen und sagte, eine Hand sei nicht dasselbe wie ein Auge. "Wir müssen Gerechtigkeit üben", sagte sie, "und ihm nicht einfach bloß irgendwie wehtun. Er muss genau denselben Schmerz erleiden, den er dem anderen zugefügt hat."

"Na gut", sagte jemand anderes. "Er hat dem anderen die Hälfte seiner Augen ausgeschlagen. Also nehmen wir ihm auch die Hälfte seiner Augen!"

"Aber das geht ja nicht, man kann doch kein halbes Auge ausschlagen. Und sogar wenn es möglich wäre, würde er genau so blind sein."

Und so debattierten sie und fanden kein Ende.

Und dann, das kann man sich ja denken, wurde der Fall von einer der Tanten vor Gericht gebracht.

Diese Tante hatte nun schon viele, viele Jahre im Haus ihres Neffen gelebt. Und da sie sich einsam gefühlt hatte, hatte sie einen ihrer anderen Neffen und seine Frau eingeladen, bei ihr zu wohnen. "Alle unsere Kinder sind hier geboren!" sagte der zweite Neffe, "und ich habe das Haus neu angestrichen und alle Zimmer tapeziert!"

"Ja, aber wer hat das Badezimmer installieren lassen?" entgegnete der erste Neffe.

"Tapeten, Badezimmer!" sagten die Richter. "Worauf es ankommt ist: Wer hat das Haus gebaut?"

"T-ja, es ist ein sehr altes Haus..." sagte der erste Neffe langsam. "Aber ich bin da geboren, also sollte es von Rechts wegen mir gehören!"

"Aber du hast es aufgegeben!"

"Nein, ich habe es nicht aufgegeben, ich bin durch beständiges Nörgeln vertrieben worden!"

"Du hättest die Tante rauswerfen können!"

"Hat man je schon davon gehört, eine Tante rauszuwerfen?"

"Aber du hast ihr nie gesagt, dass du vorhattest, zurückzukommen!"

"Wir haben in einem Zelt gelebt. Das zeigt klar, dass wir vorhatten, ins Haus unserer Väter zurückzukehren!"

Hier hob die Tante die Hand: "Wenn ich mich recht erinnere, lieber Neffe, war es mein Vater, der einmal in diesem Haus gelebt hat. Aber dann kam eines Tages seine Tante auf Besuch, die auch Tante deines Vaters war, und sie ging nie mehr weg, also musste mein Vater, um seine Ruhe zu haben, ausziehen und in einem Zelt am Strand leben. Er hat sich mit Kaffee und Zigaretten zugrunde gerichtet, der arme Narr. Von rechts wegen also, denke ich, sollte das Haus mir gehören!"

Und dann wurden die alten Dokumente und Familienalben studiert und es gab eine Menge Streit um Tanten und Onkel und Großtanten und Kusinen ersten und zweiten Grades und sogar Patenonkel und Schwippschwager wurden mit hineingezogen.

Der Prozess dauerte endlose Wochen, und mit der Zeit wurden die Leute hungrig. Denn wegen der Prozesse hatte niemand Zeit, eine nützliche Arbeit zu tun, und schön langsam gingen den Leuten die Lebensmittel aus.

Und dann hatten die zwei Eselshälften, die noch immer auf dem Versammlungsplatz herumlagen, zu stinken begonnen. Niemand hielt sich für verpflichtet, sie wegzuräumen, denn alle waren sich darüber einig, dass dafür die Besitzer verantwortlich waren. Aber die zwei Brüder hatten ein Boot gestohlen und waren aufs Meer hinausgefahren in der Hoffnung, den Zauberer zu finden und ihm genau das zu geben, was ihm gebührte. Die verfaulenden Eselshälften stanken fürchterlich und Millionen von Fliegen hatten sich darauf niedergelassen, und nach kurzer Zeit wurden alle Bellonier krank und starben.

Als der Zauberer zurückkam um zu sehen, was aus dem Kontinent geworden war, den er entdeckt hatte, fand er ihn voller Fliegen und sonst fast nichts. Er zuckte die Schultern und schwenkte seinen Zauberstab und der Kontinent versank, damit niemand von dem Misserfolg des Zauberers erfahren sollte. Der Zauberer hatte gehofft, die Fliegen würden mit dem Kontinent untergehen, aber er hatte übersehen, dass Fliegen, nun ja, fliegen können. Die Fliegen waren am Verhungern und noch bevor der Zauberer wegfliegen konnte, erhoben sie sich alle in einer riesigen Wolke und verschlangen ihn. Der führerlose Teppich flog noch ein, zwei Mal um den Erdball, dann fiel er auf einen der anderen Kontinente herunter. Dort fand ihn ein herumziehender Händler und von dem habe ich ihn auf einem Flohmarkt gekauft. Und wenn ihr meine Geschichte nicht glauben wollt - ich kann euch den Teppich zeigen!

Die verhexten Inseln

Vor einiger Zeit waren mehrere Menschen auf einem Dampfer in der Südsee unterwegs. Ich weiß nicht mehr genau, was passiert ist: Vielleicht ist der Kessel explodiert oder der Kapitän hat ein Riff übersehen - jedenfalls, was auch immer der Grund war, das Schiff ist gesunken. Alle diese Leute wurden schiffbrüchig. Und irgendwie landeten sie alle auf einsamen Inseln. Aber nicht alle auf derselben einsamen Insel. Jeder und jede einzelne strandete auf seiner oder ihrer eigenen einsamen Insel. Den Grund dafür weiß ich auch nicht, vielleicht hat sie ein Sturm so weit herumgewirbelt, als sie in ihren Schwimmwesten im Wasser trieben oder sich an einer Planke festhielten, die sich vom Schiff gelöst hatte. Wie gesagt, das passierte in der Südsee, wo das Wetter recht warm ist und die einsamen Inseln voller Kokospalmen und Obstbäume sind und das Meer rundherum von Fischen wimmelt, die man leicht mit einem umgebogenen Nagel an einem Stück Schnur fangen kann. Zum Glück hatten die Schiffbrüchigen alle einen Nagel und ein Stück Schnur in der Tasche, als das Schiff sank, so dass sie zu ihrer Brotfrucht Fisch essen und ihn mit Kokosmilch hinunterspülen konnten.

Einer der Leute, die strandeten, war ein König. Als er an Land gespült wurde, schrie er gleich einmal: "Los, los, bringt mir ein paar flauschige Handtücher, trockene Kleider und heißen Tee!" Aber nichts passierte. Er schrie: "He, ich bin der König! Wo bleiben meine flauschigen Handtücher?" Aber - noch immer nichts. Nach einer Weile wurde ihm klar, dass niemand da war, der Handtücher bringen oder Tee kochen konnte, und wenn er etwas trinken wollte, gab es eben nur Kokosmilch. Er musste seine Kleider in der Sonne zum Trocknen ausbreiten, und wenn er Hunger hatte, musste er ein paar Früchte pflücken. Er schaffte es sogar, sich eine Art Hütte zu basteln und er erinnerte sich an den gebogenen Nagel in seiner Tasche und lernte zu fischen. Aber nach einer Weile wurde ihm langweilig und er begann mit sich selber zu reden: "Hallo, willkommen auf meiner einsamen Insel!"

"Und wer bin ich, wenn ich fragen darf?"

"Ich heiße König Alfred der XXII."

"Ich freue mich, mich kennenzulernen! Und was ist mein Beruf, wenn ich so neugierig sein darf?"

"Ich bin ein König!"

"Oh, ein König, das muss ja toll sein!"

"Oh ja, das ist es."

"Und was genau macht ein König? Das wollte ich immer schon wissen."

"Ach, so dies und das. Gesetze beschließen, Steuern erhöhen, Kriege anfangen, solche Sachen halt."

"Das kling interessant. Darf ich zuschauen?"

"Oh bitte, wenn Sie möchten!"

"Also?"

"Also was?"

"Also, wann geht's los? Ich will sehen, wie man einen Krieg anfängt!"

"Hmmm - "

"Der König strengte sich an, einen Krieg anzufangen. Aber nichts passierte. Er versuchte, eine Steuer zu erhöhen. Aber es ging nicht.

"Ich könnte wenigstens versuchen, ein Gesetz zu machen", sagte er zu sich selbst. "Also schön: Es ist verboten, Bananenschalen herumliegen zu lassen!"

Aber dann fragte er sich: "Es ist doch niemand da, der das Gesetz befolgt? Ist es ein Gesetz, wenn es niemand befolgt? Nun ja, ich könnte es selber befolgen. Genau, ich beschließe, dieses Gesetz zu befolgen! Aber was ist, wenn ich beschließe, es nicht mehr zu befolgen? Kann mich jemand dazu zwingen? Ich könnte mich selber zwingen. Und was ist, wenn ich Widerstand leiste? Aber wer sagt, dass ich Widerstand leisten werde? Ich kann beschließen, keinen Widerstand zu leisten. Es hängt ganz allein von mir ab, ob ich Widerstand leiste oder nicht. Aber wenn es ganz allein von mir abhängt, ob ich Widerstand leiste oder gehorche - ist es dann ein richtiges Gesetz? Ich fürchte, es ist nicht wirklich ein wirkliches Gesetz. Ist das nicht seltsam: Ich kann eine Hütte machen, aber ich kann kein Gesetz machen? Was ist denn schon der Unterschied? Ein Gesetz machen sollte doch sogar leichter sein, als eine Hütte zu machen. Ich meine, man muss ja bloß die nötigen Worte sagen. Sollte man meinen. Aber wenn ich keinen Krieg anfangen kann, keine Steuern erhöhen kann und nicht einmal ein richtiges Gesetz machen kann - bin ich dann ein König? Mist, ich habe immer gedacht, ein König ist ein König und damit hat sich's. Aber anscheinend ist es doch nicht so."

Unter den Gestrandeten war auch eine Schullehrerin. Nachdem sie ihre Kleider getrocknet und gesäubert und sich ein nettes Tässchen Kokosmilch gemacht hatte, baute sich sich gleich einmal ein hübsches Häuschen aus Palmblättern. Als sie damit fertig war und das Häuschen mit Matten eingerichtet hatte, die sie aus Kokospalmblättern gewebt hatte, baute sie gleich daneben ein Schulhaus. Sie machte es ein bisschen größer als ihr Häuschen und stattete es auch mit mehr Matten aus. Sie fand sogar einen großen, glatten Stein, den sie als Tafel benutzen, und einige weiche weiße Muschelschalen, mit denen sie darauf schreiben konnte wie mit Kreide. Als sie alles beisammen hatte, wartete sie, bis es, wie sie vermutete, Montag war, und dann ging sie in die Schule und begann zu unterrichten. Das heißt, sie versuchte es. Aber es funktionierte nicht. Irgendwie schaffte sie es nicht zu unterrichten.

"Wie seltsam", dachte sie. "Ich bin eine Lehrerin und das ist meine Schule, aber ich kann nicht unterrichten! Anscheinend kann man nicht unterrichten, wenn niemand da ist, der lernt. Aber wenn ich nicht unterrichten kann - bin ich dann eine Lehrerin? Und wenn ich keine Lehrerin bin, ist das hier dann eine Schule? Ich habe immer gedacht, eine Lehrerin ist eine Lehrerin und eine Schule ist eine Schule und damit hat sich's. Aber anscheinend ist es doch nicht so."

Eine der Schiffbrüchigen war eine Händlerin. Sie hatte sogar geschafft, ihr Geld und ein paar von Ihren Waren zu retten. Also baute sie sich ein Geschäft und versuchte ihre Waren zu verkaufen. Sie hatte Socken und Strümpfe und Unterhemden, Nähnadeln und Stecknadeln und Zwirn und Knöpfe. Das ordnete sie alles hübsch auf einigen Matten an, die sie gewebt hatte. Sie machte sogar Preisschilder aus kleinen flachen Steinen, auf die mit Muschelschalen die Zahlen schrieb. Aber sie konnte nicht ein Stück verkaufen.

"Vielleicht sind meine Waren zu teuer", dachte sie. Also wischte sie jeden Tag die Zahlen auf den Preisschildern aus und ersetzte sie durch kleinere Zahlen. Aber es nützte nichts, sie konnte einfach nichts verkaufen.

"Vielleicht sollte ich zuerst einmal Waren einkaufen", dachte sie. Sie versuchte, Kokosnüsse zu kaufen. Aber es ging nicht. Sie versuchte Bananen und Brotfrüchte zu kaufen. Aber ohne Erfolg. Alles, was sie sah, versuchte sie zu kaufen, sogar Palmen, Korallen oder Kieselsteine. Aber es war einfach unmöglich.

"Vielleicht ist mein Geld vom Meerwasser verdorben worden?", dachte sie. Aber nein, es sah aus wie immer, sie hatte es ja in einer wasserdichten Plastiktasche aufbewahrt.

"Wie seltsam", dachte sie. "Ich habe immer gemeint, ein Geschäft ist ein Geschäft und Geld ist Geld und Ware ist Ware. Aber wie es scheint, ist es nicht so. Diese Socken sind immer noch Socken, ich kann sie ja anziehen. Und dieses Garn ist immer noch Garn, ich kann die Socken damit stopfen. Aber die Socken sind keine Waren und das Garn ist auch keine Ware, denn ich kann sie nicht verkaufen. Diese Papierstücke haben sich überhaupt nicht verändert. Aber trotzdem sind sie kein Geld mehr. Denn ich kann nichts damit kaufen. Sogar der Laden ist kein Laden und die Preisschilder sind nur Kiesel mit Zahlen darauf. Und wie kann ich eine Händlerin sein, wenn es keinen Handel gibt?"

Soll ich noch von den anderen Schiffbrüchigen erzählen? Der vierte war ein Polizist. Er versuchte, für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Aber das klappte nicht. Er baute ein Gefängnis. Aber es wurde bloß eine Hütte. Er ging in seiner Uniform herum - sie war ein bisschen zerknittert, aber immer noch eine Uniform - er hatte sogar seinen Helm und seinen Knüppel mitgebracht. Aber er wusste, dass er kein Polizist war. Er versuchte sogar, sich selbst wegen Diebstahls zu verhaften, damit er sich selbst ins Gefängnis stecken konnte. Aber er schaffte es nicht, irgend etwas zu stehlen. "Es sollte doch ganz einfach sein, hier etwas zu stehlen", dachte er. "Es gibt keine Türschlösser, keine Zäune, keine Wachhunde. Niemand wird: 'Haltet den Dieb!' schreien." Aber so sehr er sich auch bemühte, er konnte nicht die kleinste Kleinigkeit stehlen.

Tja, ich könnte noch von der Schauspielerin erzählen, von dem Fußballtrainer, dem Zeitungsreporter, dem Geschichtenerzähler...

Aber um es kurz zu machen, will ich euch nur erzählen, dass sie alle gerettet wurden. Es dauerte eine Weile, denn die Inselgruppe, auf der sie gestrandet waren, war noch auf keiner Karte verzeichnet. Also durften sie sich sogar einen Namen für den Archipel ausdenken und sie nannten ihn die Verhexten Inseln. Und sie warnten jeden, diese Inseln zu besuchen, denn, so sagten sie, wenn man den Fuß auf eine dieser Inseln setzte, würde man nicht mehr sein, wer man war. Und was könnte schlimmer sein als nicht zu sein, wer man ist?

Geld

„Und, was soll das nun sein, dieses Geld?“ Der alte Kitunda drehte das kleine Papierstück zwischen seinen Fingern.

„Es ist etwas, was die Fremden sehr schätzen“, sagte sein Sohn. „Der Agent sagt, wenn man viele, viele dieser Papierstücke hat, dann gilt man als ein reicher Mann.“

„Das kommt mir ziemlich dumm vor“, sagte der alte Kitunda. „Wenn man viele Kühe hat und viele Felder mit Mais und Yam, ein hübsches Haus und viele Kinder – dann ist man reich. Wozu soll ein Haufen Papierstücke gut sein? Kann man Papier essen? Kann man es anziehen oder darin wohnen?“

„Nun, der Agent sagt, dass man es in alles verwandeln kann. Man kann es in ein Haus verwandeln oder in eine Kuh oder in schöne Kleider, wie sie die Fremden tragen.“

„Dann ist es etwas Magisches?“

„Nein. Man kann einfach diese Papierstück gegen alles eintauschen, was man will. Wenn du ein schönes Haus siehst, kannst du dem Besitzer einige Papierstücke anbieten und ihn bitten, es dir zu überlassen. Wenn er dir das Haus nicht geben will, bietest du ihm mehr Papierstücke an. Irgendwann wird er dir das Haus geben, wenn du ihm bloß genug Papierstücke dafür bietest. Zumindest hat es mir der Agent so erklärt.“

„Dann muss es wirklich sehr starke Magie sein. Vielleicht macht die Magie, dass der Besitzer des Hauses die Fähigkeit verliert, klar zu denken?“

„Nein, das ist es nicht. Der Besitzer des Hauses kann das Geld wieder für etwas anderes eintauschen. Vielleicht für eins von diesen Autos, mit denen die Fremden fahren, oder für ganz viel Essen oder für ein anderes Haus. Deswegen lässt er dir sein Haus im Tausch für das Geld. Mit dem Geld kann er woanders hingehen und ein Haus kaufen und dort wohnen. Du kannst ein Haus nicht mit dir tragen.“

„Aber wenn er auch dumm genug ist ein Haus für Papierstücke herzugeben, wie kann er wissen dass er jemanden anderen findet, der genau so dumm ist und wertvolle Dinge für Papierstücke hergibt?“

„Ich weiß es wirklich nicht, Vater. Aber der Agent sagt, jeder weiß, dass Geld wertvoll ist und deshalb sind alle bereit, Dinge für Geld herzugeben.“

Der alte Kitunda schüttelte den Kopf. „Und der Agent, er hat dir dieses Geld gegeben?“

„Ja. Er hat mir gesagt, ich sollte zurück ins Dorf kommen und allen jungen Männern sagen, dass sie auf der Baumwollplantage arbeiten sollen. Und dafür hat er mir Geld gegeben. Und er hat gesagt, für jeden Mann, der kommt, um zu arbeiten, wird er mir mehr Geld geben.“

„Er will also, dass die Männer auf der Plantage für ihn arbeiten und dafür will er ihnen Geld geben?“

„Nun, die Plantage gehört ihm nicht. Sie gehört seinem Boss. Und sein Boss wird uns das Geld geben.“

„Sie wollen also, dass ihr geht und Baumwolle pflückt für wertlose Papierfetzen. Und wer wird sich um deine Kühe kümmern? Wer wird auf deinen Feldern arbeiten und den Mais und die Yamwurzeln ernten?“

„Der Agent sagt, mit dem Geld, das uns sein Boss geben wird, können wir mehr Mais und Yams kaufen als wir von unseren Feldern ernten.“

„Und was ist, wenn er lügt? Wie könnt ihr wissen, wie viel so ein Stück Papier wirklich wert ist?“

„Ich weiß es nicht, Vater.“

Der alte Mann grübelte eine Weile. „Wenn du mit jemandem Handel treibst, musst du wissen, was das Ding wert ist, das du hergibst, und was das Ding wert ist, das du bekommst. Du kennst doch die Waldleute. Sie pflanzen keinen Mais und keine Yams an. Stattdessen bringen sie uns getrocknetes Fleisch und wilden Honig aus dem Wald und wir tauschen das ein für Mais und Yams. Du weißt, was der alte Ekianga sagt, wenn er glaubt, dass ich ihm zu wenig Mais für sein Fleisch anbiete. Er sagt: ‚Ach, schau doch, ich habe so lange gebraucht um diese Antilope zu jagen. Wenn du mir so wenig Mais dafür gibst, lohnt es sich für mich nicht für dich zu jagen. Da wäre ich besser dran, wen ich mein eigenes Feld anlegen würde!’ Aber wenn er zu viel Mais verlangt, dann sage ich zu ihm: ‚Ach, komm, es ist so viel Arbeit, das Feld zu hacken und den Mais zu bewässern und zu ernten und zu trocknen. Wenn du mir so wenig Fleisch für den Mais gibst, dann geh ich doch lieber selber in den Wald zum Jagen!’

Kitundas Sohn lachte: „Ich weiß, wie ihr zwei immer schachert. Und ich weiß, welche Gründe du anführst!“

„Und es stimmt auch. Wenn wir sehen, dass die Waldleute zu fett werden, dann wissen wir, dass wir ihnen zu viel Mais für ihr Fleisch geben, und wenn sie meinen, dass wir zu fett werden, dann wissen sie, dass sie uns zu viel Fleisch für unseren Mais geben. Du siehst, im großen und ganzen gleicht es sich aus und wir tauschen den Wert einer Tagesarbeit im Feld gegen den Wert einer Tagesarbeit im Wald aus. Aber mit diesem Geld – ich weiß gar nicht, wie es gemacht wird und ich kenne den Mann nicht, der es herstellt. Wie sollte ich wissen, oder auch nur erraten, wie viele Stücke Papier man an einem Tag machen kann?“

„Dasselbe habe ich den Agenten auch gefragt. Er hat gesagt, dass die Banknoten in der großen Stadt von Maschinen gemacht werden und dass sie in einer Stunde viele tausend machen können.“

„Wenn sie so viele in so kurzer Zeit machen können, dann sind diese Papierstücke überhaupt nichts wert. Nicht einmal ein einziges Maiskorn! Hör auf mich, mein Sohn: Geh nicht auf die Plantage arbeiten. Arbeite auf deinen eigenen Feldern und dir und deiner Familie wird es gut gehen. Ihr werden viel zu essen haben und alle werden sehen, dass du ein wohlhabender Mann bist und sie werden dich achten und respektieren.“

Kitundas Sohn sagte: „Ich werde es mir überlegen, Vater.“

Kitundas Sohn besuchte seinen Nachbarn und zeigte ihm das Geld, das der Agent ihm gegeben hatte: „Da, schau dir das an. Die Fremden nennen das Geld. Was gibst du mir dafür?“

Der Nachbar lachte: „Dafür? Gar nichts. Wenn ich so etwas brauche, dann pflücke ich ein Blatt vom nächsten Busch. Du weißt schon, wofür...“

Also ging Kitundas Sohn zu seinem anderen Nachbarn: „Hör zu, meiner Frau ist das Salz ausgegangen. Kannst du mir etwas Salz geben? Ich gebe dir dieses Geld dafür.“

Der andere Nachbar sagte: „Schau, ich gebe dir gern etwas Salz, weil wir Freunde sind. Du kannst es mir zurückgeben, sobald du kannst, oder du kannst mir ein paar Kassavawurzeln dafür geben. Aber was soll ich mit diesen Papierstücken?“

„Nun, die Fremden würden es dir für irgendetwas, was du brauchst, eintauschen. Für ein bisschen Zucker zum Beispiel oder für ein hübsches Stück Baumwollstoff.“

„Ich habe so etwas gehört, ja. Aber ich traue dieser Sache nicht. Schau, wenn ich eine Ziege habe, weiß ich, dass ich sie immer für irgend etwas anderes eintauschen kann, denn jeder Mensch braucht Milch und muss gelegentlich ein Stück Fleisch essen. Aber wer garantiert mir, dass ich jemanden finde, der wertlose Stücke Papier braucht?“

Kitundas Sohn ging durchs ganze Dorf aber niemand wollte für sein Geld etwas eintauschen und niemand wollte mit ihm zur Plantage gehen um dort zu arbeiten. Also ging er auch nicht dorthin sondern bearbeitete seine eigenen Felder, wie es sein Vater und sein Großvater getan hatten, und seine Frau und seine Kinder waren gesund und wohlgenährt und er wurde von den anderen Dorfbewohnern geachtet.

In der Stadt an der Küste, wo die Schiffe der Fremden die Güter entluden, die die Fremden den Einwohnern verkaufen wollten, und die Baumwolle und das Kupfer und die Diamanten einluden, die die Fremden in ihrem Land jenseits des Meeres brauchten, rief der Gouverneur seine Berater zu einer Besprechung zusammen.

„Wir haben Probleme“, erklärte er. „Der Handel mit dem Mutterland läuft nicht so gut, wie er sollte. Dieses Land ist ideal für die Baumwollzucht, es ist voll von Kupfer und Diamanten. Aber wir können nicht genug Arbeiter für die Minen und Baumwollfarmen finden.“

„Und wo liegt der Grund dafür?“ fragte der Präsident der Handelskammer. „Es leben hier so viele Menschen. Was machen die den ganzen Tag?“

„Es scheint, dass sie damit zufrieden sind auf ihren eigenen Feldern zu arbeiten, ein bisschen Mais und Bananen anzupflanzen und ein paar Kühe und Ziegen zu halten“, sagte der Vorsitzende des Landwirtschaftsausschusses.

„Sie sind nichts als ein Haufen Faulpelze“, sagte der Kommandeur der Kolonialtruppe. „Wir sollten einfach Zwangsarbeit einführen!“

„Hmm, nun ja. Das Problem scheint zu sein, dass sie einfach nicht daran interessiert sind, für Geld zu arbeiten“, sagte der Vorsitzende des Landwirtschaftsausschusses.

„Und warum glauben Sie, dass sie nicht an Lohnarbeit interessiert sind?“ fragte der Präsident der Handelskammer.

„Weil sie das Prinzip des Geldes nicht verstehen. Sie glauben, dass es nur wertlose Papierstücke sind.“

„Nun ja, es sind wertlose Papierstücke“, sagte der Präsident der Handelskammer lachend. „Ich wundere mich manchmal selber, wie das funktioniert. Ich wette, die Leute hier messen ihr Vermögen noch immer in Kühen und Ziegen.“

„So ist es“, sagte der Vorsitzende des Landwirtschaftsausschusses.

„Auf gewissen Weise haben sie ja recht. Bei Kühen weiß man, woran man ist. Man kann immer jemanden finden, der Fleisch essen oder Milch trinken will, und wenn man die Kuh nicht eintauschen kann, kann man sie immer noch selber essen. Bei Gold ist es auch so, man kann es als Schmuck tragen oder sich falsche Zähne daraus machen lassen. Aber wir können die Leute natürlich nicht in Kühen bezahlen. Wissen Sie, als ich auf der Universität war, hat uns unser Professor gesagt: „Alles kann Geld sein, wenn die Menschen glauben, dass es Geld ist.“

„Und was können wir also tun, damit sie glauben dass unser Geld Geld ist?“ fragte der Gouverneur.

Der Präsident der Handelskammer überlegte: „Die jungen Männer wollen nicht für Geld arbeiten, weil die Bauern ihnen für das Geld kein Essen geben. Und die Bauern nehmen das Geld nicht an, weil die Handwirker ihnen für das Geld keine Töpfe und Hacken geben. Und so weiter...“

„Dann brauchen wir ein Gesetz, das sie zwingt Geld anzunehmen wenn jemand etwas kaufen will“, sagte der Kommandeur der Kolonialtruppen.

„Das ist nicht so leicht“, sagte der Vorsitzende des Landwirtschaftsausschusses. „Sie würden ihre Waren bloß verstecken und sagen, dass sie nichts zu verkaufen haben. Wir wissen, dass das in anderen Ländern passiert ist. Wir können ja nicht jeden die ganze Zeit kontrollieren. Nein, wir müssen sie irgendwie überzeugen, dass sie Geld brauchen, dass der Handel und die Wirtschaft ohne Geld nicht blühen können.“

„Es sollte nicht so schwer sein, sie zu überzeugen“. Der Vorstand des Finanzausschusses sprach zum ersten Mal.

„Und wie soll das gehen?“ fragte der Gouverneur?

„Wir können sie zwar nicht zwingen, Geld anzunehmen, aber wir können sie zwingen, uns

Geld zu geben. Wir verlangen, dass jeder jedes Jahr eine gewisse Summe als Steuer zahlen muss. Es ist leicht zu kontrollieren, ob jemand Steuer einmal im Jahr seine Steuer bezahlt hat oder nicht. Und die Steuer muss in unserem Papiergeld bezahlt werden. So werden alle genötigt sein, sich irgendwie dieses Geld zu beschaffen. Und sie werden bereit sein, für Geld zu arbeiten und Waren gegen Geld einzutauschen. Wir werden die Arbeiter haben, die wir brauchen, und werden ihnen unsere Waren verkaufen können.“

„Ein großartiger Gedanke!“ sagte der Gouverneur, und der Präsident der Handelskammer und der Vorsitzende des Landwirtschaftsausschusses klatschten Beifall.

„Und wenn sie nicht zahlen, marschieren sie in Gefängnis“ fügte der Kommandeur der Kolonialtruppen hinzu, und dieses Mal applaudierten die anderen auch ihm.

„Also“, sagte der alte Kitunda, „jetzt haben sie uns da, wo sie uns wollten!“

Die jungen Männer waren bereit, zur Plantage aufzubrechen.

„Mach dir keine Sorgen, Vater“, sagte Kitundas Sohn. „Ich werde das Geld verdienen um die Steuer für dich und für Mutter und für meine Frau zu bezahlen. Unserer Familie wird nichts passieren.“

„Ja. Aber unserer Felder werden brachliegen, weil uns eure starken Arme fehlen werden. Wir werden niemals mehr selber für uns sorgen können, wir werden vom Geld der Fremden abhängig sein und davon, ob sie uns für sich arbeiten lassen oder nicht.“

Der alte Kitunda umarmte seinen Sohn. „Ich hoffe, dass ich noch am Leben sein werde, wenn du von der Plantage zurückkommst, damit ich dich begrüßen kann. Aber vielleicht mag ich auch gar nicht mehr länger leben. Weißt du, als sie das erste Mal hier auftauchten, wollten einige von uns gegen sie kämpfen. Aber erst jetzt haben sie uns wirklich besiegt. Nichts wird mehr so sein wie früher.“

Und die jungen Männer marschierten davon.

Im Krieg

Im Krieg, sagt Großvater, da waren wir Männer, weißt du, Junge, richtige Männer.

Im Krieg, da muss man zusammenhalten, einer für alle, alle für einen.

Im Krieg, da hilft man den Kameraden, und die Kameraden helfen dir. Da ist keiner allein, denn allein, da kann man es nicht überleben.

Im Krieg, sagt Großvater, da zeigt sich erst, wer du wirklich bist. Ob du ein Feigling bist oder tapfer. Ob du echten Mumm in den Knochen hast oder nur ein Angeber bist.

Im Krieg, sagt Großvater, da kannst du nicht lang überlegen.

Im Krieg, da heißt es parieren. Wenn befohlen wird, lauf! dann läufst du, und wenn befohlen wird, schieß! dann schießt du.

Im Krieg, da fragst du dich nicht, warum? Im Krieg, da tust du, was getan werden muss.

Im Krieg, da musst du dich nicht entscheiden.

Im Krieg, da sorgst du dich nicht um morgen. Im Krieg, da ist immer nur jetzt.

Im Krieg, sagt Großvater, da wirst du hart. Da lernst du über Berge springen und durch Wüsten schwimmen, da lernst du Dreckwasser saufen und deinen Hunger fressen. Da ziehst du mit deinem Gewehr durchs Polareis und durchs Vulkanfeuer, da steigst du über brennende Lava und tauchst unter Eisschollen durch und alles, was dich kümmert, ist, dass dein Gewehr immer trocken bleibt.

Im Krieg, da rettest du deinem Kameraden zehnmal am Tag das Leben, und dein Kamerad sagt: "He, danke, Kumpel", und: "Ist schon in Ordnung", sagst du, und da braucht’s keine großen Worte, da genügt ein Händedruck und man versteht sich.

Im Krieg, da gibt es wahre Freundschaft.

Im Krieg, da teilt man den letzten Bissen und den letzten Schluck Wasser und die letzten paar Schuss Munition.

Im Krieg, sagt Großvater, wenn du da einmarschierst mit den anderen in eine eroberte Stadt oder in ein Dorf, da rennen die Mädchen davon und verstecken sich, und dann gucken sie hinter Fenstervorhängen heraus mit ihren sehnsüchtigen Augen oder sie kommen schüchtern hervor und bringen Obst oder Wein und lächeln verschämt und du gibst ihnen von deiner Ration, du hast Schokolade aufgehoben für sie und du fasst sie unters Kinn und schaust in ihre Augen und küsst sie, und dann gehst du weiter, denn es gibt noch viele Mädchen in den eroberten Städten und die Sehnsucht war groß all die Jahre.

Und wenn du dann heimkommst als Sieger, sagt Großvater, dann stehen da wieder die Frauen und Mädchen und warten mit Blumen auf dich und Kuchen, die sie gebacken haben und halten Plakate hoch, auf denen WILLKOMMEN steht und DAS VATERLAND DANKT EUCH und solche Sachen, und dann spielt die Musik und dann gibt es Reden vom Bürgermeister und Medaillen und Orden und Freudentränen.

Im Krieg, sagt Großvater, da bestraft man dich nicht für das Schreckliche, das du getan hast. Nur die Träume, sagt Großvater, die kommen immer und immer wieder, und dann schreist du auf in der Nacht.

Im Krieg, sagt Großvater, da stirbt man. Aber die, die gestorben sind, die erzählen nichts.

Geschichte von einem guten König

Es lebte einst ein guter König, der sein Land weise regierte. Die Steuern, die seine Untertanen zahlten, gebrauchte er, um Schulen und Universitäten bauen zu lassen, so dass die jungen Menschen alle Berufe lernen und alle Wissenschaften studieren und so einander besser dienen konnten. Er ließ auch Krankenhäuser bauen und Ärzte ausbilden, damit seine Untertanen nicht mehr als nötig an Krankheiten leiden mussten. Er ließ Straßen und Eisenbahnen bauen, damit die Güter, die in einem Teil des Landes erzeugt wurden, rasch in alle anderen Landesteile gebracht werden konnten, wo man sie brauchte. Er ermahnte seine Richter, gerecht zu urteilen und er erlaubte seinen Beamten nicht, Bestechungsgelder anzunehmen.

Der König wollte auch, dass seine Untertanen in Frieden leben sollten. Er wies die Lehrer und Lehrerinnen in den Schulen an, die Kinder zu lehren tolerant zu sein und andere Menschen nicht wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Religion oder ihrer Kultur zu verachten. Die Kinder sollten auch lernen, dass sie nicht miteinander raufen sollten, wenn sie eine Meinungsverschiedenheit hatten, sondern sich aussprechen und ihren Streit freundschaftlich beilegen sollten. Jedes Jahr wurde in der Hauptstadt ein großes Friedensfestival abgehalten, mit Musik und Volkstänzen und jungen Menschen aus der ganzen Welt, die dazu eingeladen wurden.

Der König war ein netter junger Mann, still, bescheiden und sanft. Er konnte wirklich keiner Fliege etwas zuleide tun. Er trug keine extravaganten Kleider, er aß keine teuren exotischen Speisen, trank keine kostbaren Weine. Er gab auch das Geld der Steuerzahler nicht für pompöse Paläste oder edle Pferde oder schnelle Autos aus. Er liebte seine junge Frau und saß am Abend bei seinen zwei Kindern im Kinderzimmer und las ihnen Gute-Nacht-Geschichten vor. Doch was er am liebsten tat war, in seinem Studierzimmer zu sitzen, umgeben von seinen Büchern und den Berichten aus allen Landesteilen, und neue Pläne auszuarbeiten, wie das Leben seiner Untertanen noch verbessert werden könnte.

Der König war nicht eingebildet, aber er war ein klarer Denker. Und wenn er sich die Berichte ansah, die er aus allen Teilen des Landes bekam, dann musste er zu dem Schluss kommen, dass er vermutlich der beste König war, den sich das Land nur wünschen konnte. Er kam weiter zu dem Schluss, dass niemand im Land Grund hatte, sich einen anderen König zu wünschen, außer er hätte schlechte Absichten, und dass jeder, der vielleicht an seiner Stelle König sein wollte, nur die Absicht haben konnte, die königliche Macht für selbstsüchtige Zwecke zu nutzen.

Er sagte zu seinem Polizeichef: „Wenn irgendjemand den Wunsch haben sollte, statt mir König zu sein, dann kann es nur sein, um die königliche Macht zu missbrauchen. Vielleicht um edle Pferde zu kaufen oder pompöse Paläste bauen zu lassen oder das Geld der Steuerzahler für extravagante Kleider und Juwelen auszugeben oder für edle Pferde und schnelle Autos. Also halten Sie bitte die Augen nach solchen Leuten offen und verhindern Sie, dass sie unserem Königreich schaden.“

Der Polizeichef war ein alter Freund des Königs. Sie hatten beide die selben Schulen besucht und an den selben Universitäten studiert. Der Polizeichef war ebenfalls ein netter junger Mann mit vielen guten Eigenschaften. Er hasste niemanden und verachtete niemanden, weil er oder sie sich anders anzog oder eine andere Sprache sprach oder an eine andere Religion glaubte. Aber seine hervorragendste Eigenschaft war, dass er seinem König absolut treu und ergeben war. Er sagte seinen Polizisten: „Wir haben einen sehr klugen und fürsorglichen König, der uns weise regiert. Er kümmert sich um unsere Schulen und Universitäten, sorgt sich um unsere Spitäler, organisiert den Bau von Straßen und Eisenbahnen, achtet darauf, dass die Post schnell zugestellt wird, eröffnet Schwimmbäder und Spielplätze und wacht über unsere Gerichte. All das ist sehr wichtig für unser Land. Doch das Wichtigste für das Wohl unseres Landes und das Wohlergehen seiner Untertanen ist: dass unser König König bleibt. Also halten Sie die Augen offen nach Leuten, die sich einen anderen König wünschen oder vielleicht sogar selber König werden wollen. Solche Personen sind Feinde des Volkes und müssen sofort unschädlich gemacht werden!“

Die Polizisten waren ebenfalls nette Menschen, die viele gute Eigenschaften hatten. Sie liebten ihre Familien und hassten niemanden. Aber ihre hervorragendste Eigenschaft war, dass sie ihren Vorgesetzten absolut gehorsam waren. So hielten sie Ausschau nach Leuten, die vielleicht Feinde des Königs und somit Feinde des Volkes waren. Wenn sie von jemandem hörten, der sagte: „Das neue Spital ist eine wirklich gute Sache, aber es sollte doch eine größere Kinderklinik haben“, oder wenn ihnen jemand gemeldet wurde der meinte: „Warum lernt man in unseren Schulen so viel über die Geschichte unseres Königshauses und so wenig über andere Länder?“, dann verdächtigten sie ihn, dass er den König heruntermachen wollte und verhafteten ihn.

Nach einiger Zeit begannen sich einige Leute ernsthaft zu beklagen und sagten, die Polizei sollte doch nicht Leute verhaften, bloß weil sie eine andere Meinung über Schulen oder Spitäler hatten. Natürlich wurde mit solchen Personen noch strenger verfahren. Sie wurden in die tiefsten Kerker gesperrt und ihre Gerichtsverhandlungen wurden nicht öffentlich abgehalten. Die gewöhnlichen Leute sollten nicht erfahren, dass so viele Menschen das Verhalten der Polizei kritisierten. Und wenn jemand versuchte, sich gegen die Verhaftung zu wehren, dann blieb den Polizisten nichts übrig als Gewalt anzuwenden, auch wenn ihnen das gar nicht recht war.

Die Freunde und Verwandten der Menschen, die verschwunden waren, hörten nicht auf Fragen zu stellen, und so erließ der König ein Gesetz, nach dem es verboten war, die Handlungen der Polizei zu kritisieren. Den Zeitungen war es nicht gestattet über die Verhaftungen zu schreiben oder über die Leute, die verschwunden waren. Unter der Bevölkerung waren die Meinungen gespalten. Einige meinten, die Polizei hätte schon recht, streng über die Sicherheit des Königs zu wachen, denn schließlich war er ein wirklich guter König und regierte das Land weise. Aber andere sagten, dass es unfair war Menschen zu verhaften und in die tiefsten Kerker zu werfen, ohne ihnen auch nur ein öffentliches Gerichtsverfahren zu gewähren. Sie beklagten sich auch, dass der König inzwischen mehr Geld für die Polizei ausgab als für Schulen oder Spitäler oder Straßen. Und jetzt begannen einige Leute ernsthaft der Meinung zu sein, dass der König durch jemand anderen ersetzt werden sollte. Als einige dieser Leute verhaftet wurden, dachte der Polizeichef, dass sie zu gefährlich waren, um am Leben gelassen zu werden, selbst in den tiefsten Kerkern. Seine Treue zum König verlangte, dass er diese Rädelsführer töten ließ, obwohl er eine große Abneigung gegen Blutvergießen hatte. Er tat es auch nicht selbst, sondern befahl seinen treuesten Polizisten, es zu tun. Diese Polizisten, die es gewohnt waren, Befehlen zu gehorchen, stellten seine Entscheidung nicht in Frage. Sie taten einfach ihre Pflicht.

Es ist leicht zu erraten, was als nächstes passierte. Der Polizeichef fürchtete, dass die Leute, die sich gegen den König stellten, sich in den Nachbarländern versammeln, eine Armee aufstellen und zurückkommen würden, um das Land zu erobern und den König abzusetzen. Also wurden noch mehr Steuergelder dazu verwendet, die Armee zu verstärken und Waffen zu kaufen und Geheimagenten anzustellen, die die Nachbarländer ausspionierten.

Und natürlich begann man sich in den Nachbarländern zu fürchten und bereitete sich darauf vor, sich zu verteidigen. Und eines Tages blieb dem netten jungen König nichts übrig als seinen Nachbarn den Krieg zu erklären, und dem treuen Polizeichef blieb nicht übrig als die Armee in die Schlacht zu führen, und all den jungen Männern, die erzogen worden waren, anderen gegenüber tolerant und respektvoll zu sein, blieb nichts übrig als ihre Gewehre zu nehmen und über die Grenze zu marschieren und auf die jungen Männer der anderen Seite zu schießen, bevor die anderen auf sie schossen.

Bericht an den Rat der Vereinten Sonnensysteme

Auf Grund unserer Beobachtungen während ungefähr 10.000 Umdrehungen des Planeten Yer müssen wir dringend davon abraten, diesen Planeten und seine Bewohner in die Vereinten Sonnensysteme aufzunehmen.

Es gibt auf Yer eine Art von Bewohnern, die sich für intelligent hält und sich während der letzten Million Umdrehungen gewaltig vermehrt und über den Planeten ausgebreitet hat, die sogenannten Nin, Menschen oder Orang. Diese Art, die ursprünglich von Baumbewohnern abstammt, hält sich zwar für intelligent, doch sind die derzeit vorhandenen sechs Milliarden Nin nicht imstande, ihre Handlungen irgendwie sinnvoll aufeinander abzustimmen. Oft zerstören die einen, was die anderen geschaffen haben, sie nehmen einander auch Nahrung und Kleidung weg. Sie erzeugen zwar Dinge, die ihnen das Leben erleichtern und verschönern sollen, aber indem sie diese Dinge erzeugen, zerstören und vergiften sie die Atmosphäre, das Wasser und die Erde ihres Planeten, und machen sich so das Leben wiederum unendlich viel schwerer. Eine der schlimmsten Plagen, unter denen sie leiden ist eine Sitte - oder sollen wir es eine Krankheit nennen? - die sie wojna, war, Krieg oder guerra nennen. Wenn eine wojna ausbricht, gehen große Gruppen von Nin aufeinander los und zerstören einander. Sie zerstören die Wohnstätten und Nahrungsmittel der „Feinde" und quälen einander aufs Schrecklichste. Unser Forscherteam hat versucht herauszufinden, warum sie das tun. Tatsächlich sind die Nin selber sich völlig uneinig in dieser Frage. Es gibt, und das ist das seltsame, sehr viele unter ihnen, die diese grausame Sitte ablehnen und als das größte Unglück betrachten, das die Ninheit befallen kann. Andere allerdings lieben wojna, erzählen davon oder sehen bewegte Bilder darüber an. Die Nin, die wojna ablehnen, haben verschiedene Anschauungen darüber, warum es dazu kommen kann. Manche halten es einfach für einen Ausbruch von Wahnsinn bei einer größeren Gruppe von Nin. Andere meinen, dass die Nin sozusagen zwei verschiedene Seelen in sich tragen, eine gute, die die anderen Nin liebt, und eine böse, die die anderen Nin hasst. Wieder andere meinen, wojna sei zwar nicht schön, aber leider hin und wieder nötig. Oft kommt es vor, dass zwei Gruppen von Nin miteinander wojna beginnen, und jede Gruppe sagt; „Ja, wir wollen diese wojna nicht, aber die anderen zwingen uns leider dazu."

Unser Forscherteam neigt zu der Ansicht, dass das Grundproblem der Nin ist, dass sie nicht imstande sind, die Handlungen von großen Gruppen miteinander in Einklang zu bringen. Sie scheinen überhaupt noch nicht begriffen zu haben, dass sie keine Einzelwesen sind, sondern miteinander und allen anderen Bewohnern des Planeten verbunden. Um den Nin begreiflich zu machen, was gemeint ist, könnte man das Beispiel von zwei Yer-Bewohnern heranziehen, die von manchen Nin Ochsen genannt werden. Spannt man zwei von diesen Ochsen vor ein Fortbewegungsmittel, das auf Yer von einigen Wagen genannt wird, und der eine Ochse zieht nach Norden, der andere aber nach Westen, so werden die beiden nach Nordwesten kommen, obwohl eigentlich keiner von den beiden dorthin wollte. Die Nin haben noch nicht begriffen, dass sie mit allen anderen sechs Milliarden Nin so verbunden sind, wie die zwei Ochsen vor dem Wagen. Nur sind ihre Handlungen viel komplizierter als das Ziehen eines Wagens, und das Ergebnis der Handlungen von sechs Milliarden auszurechnen ist natürlich schwerer, als den Weg der beiden Ochsen zu berechnen. Bis jetzt scheint es, als ob die Intelligenz der Nin dazu nicht ausreichte.

 

Es folgt nun der Bericht unseres Forscherteams über die Entstehung von wojna auf  dem Planeten Yer.

Vor vielen, vielen tausend Planetenumdrehungen, als die Nin noch vom Sammeln und Jagen in den Wäldern lebten, da kannten sie wojna noch nicht.

Die Nin lebten damals in kleinen Gruppen zusammen und  streiften durch die Wälder. So eine Gruppe bestand nur aus sechzig bis achtzig Nin, vielleicht  zehn bis fünfzehn sogenannte Familien.

Jede Gruppe hatte ein bestimmtes Jagdgebiet, das sie im Lauf eines Jahres durchwanderte, auf der Suche nach Beeren und Früchten, nach Pilzen und Wurzeln, nach Schnecken und Fröschen und natürlich nach Wild, das sie jagen konnten. In einem Gebiet, sagen wir, in einem Gebirgstal, lebten nur ganz wenige solcher Gruppen, vielleicht drei oder höchstens vier. Eine größere Menge von Leuten kann der Wald nicht ernähren. Diese Nin kannten keine Könige oder Häuptlinge, keine Gerichte, keine Polizei oder Gefängnisse, und sie hatten auch keine Gesetze. Wozu denn? Wenn einer etwas tat, was den anderen nicht passte, konnten sie sich abends am Feuer zusammensetzen und darüber reden. Wenn sie Gazellen jagen wollten, dann folgten sie ihrem besten Jäger. Aber wenn die Zeit kam, wo man den Honig der wilden Bienen finden konnte, dann folgten sie der Frau, die sich am besten mit den Bienen auskannte. Und wenn es Streit gab, dann folgten sie dem Rat der ältesten Frauen und Männer, weil die die meiste Erfahrung hatten. Die Nin hielten zusammen und teilten alles miteinander, denn anders hätten sie nicht überleben können.

Wenn eine Gruppe zu groß wurde, musste sie sich teilen, und die eine Hälfte musste woanders neue Jagdgründe suchen. Da konnte es passieren, dass sie in das Gebiet einer anderen Gruppe eindrang. Und dann, doch, dann konnte es Kampf geben. Aber so ein Kampf war schnell zu Ende. Es war vielleicht nur eine große Rauferei. Und sobald eine Gruppe die Flucht ergriff, war der Kampf zu Ende.

Solche Kämpfe waren aber eine Ausnahme und kamen nur vor, wenn eine Gruppe auswandern musste. Das kam nicht oft vor, denn bei fast allen Völkern kannten die Frauen bestimmte Kräuter, die verhinderten, dass sie Kinder bekamen. So konnten die Frauen verhindern, dass die Gruppe zu groß wurde und sich vielleicht teilen musste. Ansonsten gab es keinen Grund für Kampf. So eine Ningruppe hatte nicht den Wunsch, ihr Jagdgebiet immer größer und größer zu machen. Ein größeres Jagdgebiet hätte sie gar nicht ausnutzen können. Es hatte auch keinen Sinn, die Nachbargruppe zu überfallen und auszuplündern. Denn da gab es nichts zu plündern. Die Nin damals hatten nur sehr wenige Vorräte. Sie lebten von der Hand in den Mund und sammelten und jagten nur soviel, wie sie bald aufessen konnten.

Vor ungefähr 6000 Planetenumdrehungen änderte sich in bestimmten Gegenden, wo die Nin lebten, das Klima. Die Unterschiede zwischen trockener und feuchter Jahreszeit wurden größer, und bestimmte Pflanzen wuchsen nicht mehr. So blieben auch die Tiere aus, die von diesen Pflanzen gelebt hatten. Aber bestimmte Pflanzen, die als Samen harte Körner trugen, konnten in diesem Klima besonders gut gedeihen, und die Nin entdeckten, wie sie diese Pflanzen hegen und pflegen konnten., und dass man so auf kleinem Raum viel mehr Nahrung gewinnen konnte, als wenn man durch die Gegend streifte und nahm, was man fand. Diese Nin konnten nicht mehr herumwandern, sie legten die ersten Dörfer an und wurden Bauern. Sie behielten aber viele ihrer Jägersitten bei. So, wie sie früher gemeinsam gejagt hatten, arbeiteten sie jetzt gemeinsam auf den Äckern. Das Land gehörte niemandem - oder allen. Wenn es gemeinsame Angelegenheiten zu entscheiden gab, versammelten sich die Dorfbewohner und besprachen die Sache. Sie wählten keine Anführer, aber wenn es eine bestimmte Sache zu organisieren gab, zum Beispiel ein neues Waldstück zu roden, oder ein Gemeindehaus zu bauen, oder einen Jagdzug zu unternehmen, dann baten sie einen Mann oder eine Frau, die etwas davon verstanden, die Leitung zu übernehmen. Das war früher auch so gewesen. Die Männer gingen immer noch auf die Jagd nach dem spärlicher gewordenen Wild, und ein großer Teil der Arbeit auf den Feldern wurde von den Frauen gemacht. Aber da die wichtigste Nahrung von den Feldern kam, galt das Wort der Frauen oft mehr als das der Männer.

Das Bauernleben hatte Vorteile und Nachteile. Man war vom Getreide abhängig geworden. Als sie noch Sammlerinnen und Jäger gewesen waren, war es nicht so schlimm, wenn eine Pflanzenart in einem Jahr nicht gedieh. Es gab Hunderte andere in den Wäldern. Wenn jetzt eine Dürre kam, mussten sie hungern. Ihr Essen war auch einseitiger geworden, wenig abwechslungsreich, so dass sie schlechte Zähne bekamen und ihre Kinder kleiner blieben. Und die Arbeit war hart und eintönig, das Leben war nicht mehr so abwechslungsreich und aufregend wie früher. Doch ein Zurück gab es nicht mehr. Schon allein, weil Jäger und Sammlerinnen viel mehr Land brauchen als Bauern. 

Das Neue war, dass sie jetzt nicht mehr von der Hand in den Mund lebten. Sie konnten mehr erzeugen, als sie verbrauchten. Sie konnten einen Vorrat anlegen. Da hatten sie etwas für schlechte Zeiten, ein Sicherheitspolster, wenn es einmal eine Dürre geben sollte oder eine Überschwemmung. Und wenn die Vorräte groß genug waren, konnten sie auch etwas davon in die Zukunft investieren. Das heißt: Wenn sie genug Korn eingelagert hatten, konnten sie es sich zum Beispiel erlauben, im nächsten Jahr ein paar Äcker weniger anzubauen. Ein Teil der Leute konnte stattdessen einen Bewässerungskanal graben, so dass im übernächsten Jahr die Ernte noch reicher ausfiel und der Überschuss noch größer wurde. Dann konnten sie es sich entweder bequemer machen, oder den Überschuss wieder in etwas anderes investieren. Wenn nicht alle auf den Äckern gebraucht wurden, konnte sich eins auf das Schmieden spezialisieren und ein anderes auf das Töpfern und so weiter, und diese Künste weiterentwickeln, was wiederum in späteren Jahren die Arbeit von allen erleichterte. Genauso gut konnten sie es auch einigen gestatten, sich aufs Heilen, aufs Beten oder aufs Dichten von Liedern zu spezialisieren. Das erhöhte zwar nicht den Überschuss, aber es machte das Leben für alle angenehmer und reicher. So hielt langsam und gemächlich der Fortschritt seinen Einzug, Schmuck wurde erzeugt, Bilder wurden gemalt und Statuen gemeißelt, Lieder und Erzählungen wurden gedichtet, die Kleider wurden schöner und die Tänze komplizierter. Es war ein friedliches Leben.

In anderen Gegenden folgten Jäger den Herden von Huftieren. Gazellen, Hirsche, Schafe und Ziegen grasten im Winter in der Ebene, im Sommer auf den Höhen. Die Jäger folgten ihnen auf ihren Wanderungen. In der Ebene fanden sie Datteln, an den Hängen Eicheln, Mandeln und Pistazien, auf den Höhen Äpfel und Birnen. Wilde Körner reiften in verschiedenen Höhen zu verschiedenen Jahreszeiten. Je bessere Jäger die Menschen wurden, um so gezielter konnten sie die Tiere auswählen, die sie sich zur Beute erkoren. Wenn sie hauptsächlich junge Böcke und Widder erlegten, und die weiblichen Tiere schonten, konnten die Herden sich besser vermehren. Die Jäger erlegten Bären, Wölfe und Füchse, damit sie den Herden keinen Schaden zufügten. Sie trieben die Herden in Gegenden, wo sie sie besser schützen konnten. Schafe und Ziegen waren weniger scheu als Gazellen und Hirsche, gewöhnten sich leichter an die ständige Gegenwart von Menschen. Also folgten die Jäger lieber ihnen. Und aus Jägern wurden Hirten. Das Leben der Hirtenvölker hatte noch viele Ähnlichkeiten mit dem früheren Leben der Jäger. Sie zogen noch immer im Jahreskreislauf durch ihre Weidegründe, und natürlich jagten sie auch Tiere, die sich nicht zähmen ließen. Da das Jagen immer mehr Männersache gewesen war, betrachteten die Männer die Herden als ihr Eigentum, und so galt bei den Hirten das Wort der männlichen Nin mehr als das der weiblichen.

Hirten und Bauern trafen natürlich bald aufeinander. Jeder hatte etwas, was der andere brauchen konnte. Die Hirten konnten von den Bauern Getreide und Brot bekommen, Töpfe aus Ton und andere Dinge. Die Bauern bekamen dafür Fleisch, Leder und wilde Früchte und Nüsse.

Aber eines Tages entdeckte ein Hirtenhäuptling, der auch ein großer Jäger war, dass man den Bauern auch wegnehmen konnte, was man wollte, ohne ihnen etwas dafür zu geben. Die Bauern, die die Jagd nicht mehr gewohnt waren, waren keine guten Kämpfer. Die Hirten waren dem alten Jägerleben noch viel näher. Für sie waren die Bauern einfach ein neues Wild. Und so gewöhnten sie sich an, die Bauern regelmäßig zu überfallen und auszurauben. Nicht, dass ihr glaubt, sie wären plötzlich schlechte Nin geworden. Sie blieben einfach bei ihrer gewohnten Erwerbsweise und wandten sie nur auf ein neues Wild an: auf den Bauern mit seinem Vieh und seinen Kornvorräten. Untereinander blieben sie freundlich und hilfsbereit wie eh und je, teilten die Beute miteinander, regelten gemeinsam ihre Angelegenheiten und waren lieb zu ihren Kindern. Sie waren Jäger, keine Krieger, und trotzdem brachten sie die wojna in die Welt.

Warum konnten sie das Bauerndorf immer wieder überfallen und ausplündern? Weil die Bauern eben mehr Nahrung herstellen konnten, als sie selber unbedingt brauchten. Wenn die Jäger die Scheunen nicht komplett ausplünderten, wenn sie nicht alle Schafe und Schweine mitnahmen, wenn sie die Felder nicht anzündeten, dann konnten die Bauern sich irgendwie bis zur nächsten Ernte durchbringen. Und dann war wieder etwas da, was die Jäger rauben konnten. Mit der Zeit schlossen die Jäger sogar Verträge mit den Bauern: wenn die Bauern ihnen freiwillig Korn und Fleisch gaben, man nannte das »Tribut«, dann würden sie sie nicht mehr überfallen, sondern stattdessen sogar beschützen. So wurden die Jäger zu Herrschern und Kriegern, und die Bauern wurden ihre Knechte.»Und jetzt passierte etwas Eigenartiges: Obwohl die Herrscher und Krieger ja nichts arbeiteten und außerdem einen ganz schönen Teil von dem, was die Bauern erzeugten, verprassten, blieb der Gemeinschaft als Ganzes ein größerer Überschuss als den Bauern früher, als sie noch frei waren. Die Bauern behielten jetzt weniger von dem, was sie erzeugten, und sie erzeugten mehr als früher. Früher, als sie frei über ihre Zeiteinteilung entscheiden konnten, hatten sie natürlich nicht das Äußerste geleistet, was ein Nin leisten kann, und sie hatten sich nicht mit dem Notwendigsten begnügt, was ein Nin braucht. Welcher freie Nin, der bei Sinnen ist, würde das tun? Aber genau dazu wurden sie jetzt von ihren Herrschern gezwungen: sie mussten das Äußerste leisten, und sich mit dem Notwendigsten begnügen.

Und weil diese Krieger-Bauerngemeinschaft einen größeren Überschuss erzeugte als jede andere Gemeinschaft, konnten hier mehr Bewässerungskanäle angelegt werden, mehr Werkzeuge geschmiedet werden, mehr Erfindungen gemacht werden als anderswo. Es konnten mehr Waffen und bessere Befestigungen gebaut werden, und es konnten auch mehr Tempel gebaut und mehr Priester durchgefüttert werden als anderswo. Mit einem Satz: eine solche Gemeinschaft war allen anderen überlegen, sie konnte sich schneller vermehren, und konnte andere Gemeinschaften unterwerfen und ihnen dieselbe Lebensweise aufzwingen.

Die früheren Jägerstämme hatten nie den Wunsch gehabt, ihr Jagdgebiet größer zu machen. Sie hätten es ja gar nicht ausnützen können. Die Bauern hatten auch nicht den Wunsch gehabt, ihr Land zu vermehren. Sie hätten es ja nicht bearbeiten können. Aber die neuen Herrscher hatten den Wunsch, immer mehr Dörfer zu unterwerfen. Denn je mehr Dörfer sie beherrschten, um so mehr Tribut konnten sie bekommen. Und je mehr Tribut sie bekamen, umso mehr konnten sie für Verbesserungen verwenden, die ihre Macht noch weiter stärken würden. Es gab ja auch bald an anderen Orten Krieger- und Bauerngemeinschaften, vor denen sie auf der Hut sein mussten. Und so wurde der Krieg zu einer ständigen Einrichtung, sogar zur Gewohnheit.

Fassen wir also die traurige Geschichte zusammen:

Dort, wo die Nin frei waren, verwendeten sie die Zeit, die ihnen die Arbeit übrig ließ, für Dinge, die das Leben schöner machen: fürs Musikmachen und Tanzen, fürs Geschichtenerzählen, für das Erzeugen von Schmuck, für das Verschönern der Kleider oder für die Bemalung ihrer Körper.

Dort, wo die Nin von Kriegern beherrscht wurden, wurden sie gezwungen, möglichst viel Nahrung herzustellen, damit andere wiederum Metalle gewinnen und Waffen herstellen, Schutzmauern und Burgen bauen konnten, lauter Dinge, die den Nin eigentlich nur Leid und Schmerz bringen. 

Eigenartigerweise gab es in den Ländern der Krieger aber auch schönere Kleider, kostbareren Schmuck, großartigere Statuen und auch bessere Musik. Wie ist das möglich? Weil es all diese schönen Dinge ja nur für die Herrscher gab. Sie holten die besten Künstler in ihre Paläste, gaben ihnen gutes Essen, schöne Häuser und Kleider, sodass sie den ganzen Tag nur ihre Künste verbessern konnten. Für die einfachen Nin aber gab es keine Künste.

Bei den freien Nin gab es in jedem Dorf Musiker und Schmuckhersteller, aber die waren gleichzeitig auch Bauern und hatten nicht soviel Zeit, ihre Kunst zu verfeinern.

Ein Kriegervolk war also meistens reicher, als ein Volk von freien Nin sein konnte. Aber nur deswegen, weil die meisten Nin dieses Volks in Armut und Unwissenheit lebten, und nur der Herrscher und seine Krieger über den Reichtum verfügten. Deswegen waren die Krieger aber stärker als die freien Nin, und konnten sie unterwerfen.

So wurde Yer eine Welt des Kampfes, des Raubes und der gegenseitigen Unterdrückung.

Nicht die Lebensweise setzte sich durch, die den meisten Nin den größten Spaß versprach, sondern die Lebensweise, die den größten Überschuss hervorbrachte und den schnellsten Fortschritt ermöglichte. 

Wohin das führte, soll noch kurz am Beispiel eines Gebietes abgehandelt werden, das Römisches Reich genannt wurde.

Die Kriegerfürsten kamen bald dahinter, dass sie noch reicher werden konnten, wenn sie die besiegten Feinde zu Sklaven machten. Ein Sklave hatte überhaupt keine Rechte mehr, er musste arbeiten wie ein Tier und wurde oft schlimmer als ein Tier gehalten. Freilich arbeitet ein Sklave nur dann, wenn er dazu gezwungen wird. Und freilich lebt ein Sklave, der nicht einmal so gut wie ein Tier gehalten wird, nicht sehr lange. Aber das macht ja nichts, man kann ja neue Kriege führen und neue Sklaven einfangen. In Rom kam es bald soweit, dass kein freier Römer mehr arbeiten wollte. Arbeit war Sklavensache. Das Römische Reich führte ständig Kriege, um immer mehr und mehr Sklaven zu bekommen, die die ganze Arbeit tun und das Reich ernähren mussten. Die freien Römer waren alle entweder Soldaten oder arbeitslose Herumlungerer, bis auf die wenigen, die Beamte des Kaisers oder Grund- und Sklavenbesitzer waren. Das Römische Reich führte ständig Kriege und dehnte sich immer mehr aus. Es beherrschte die Welt. Aber eines Tages brach es zusammen. Es war so groß geworden, dass die römischen Soldaten nicht mehr ausreichten, um die weiten Grenzen zu verteidigen und gleichzeitig im ganzen Land die Sklaven zu bewachen. Es kam der Punkt, wo der Krieg das Land nicht mehr stärker machte, sondern es so schwach machte, dass es zugrunde ging.

Andere Reiche sind an seine Stelle getreten, andere Formen des Zusammenlebens entstanden. Aber eines blieb gleich: Nicht die Formen des Zusammenlebens setzten sich durch, die für die Menschen am angenehmsten waren, sondern die, die den meisten Überschuss brachten. Immer konnten diejenigen Reiche oder Staaten, die den größeren Überschuss erzielten, die anderen unterwerfen und ihnen ihre Lebensform aufzwingen. Daran hat sich nichts geändert, und darum ist auch wojna bis heute aus dem Leben der Nin nicht verschwunden. Bis heute verwenden sie den größten Teil ihrer Überschüsse, um neue, noch bessere Waffen herzustellen. Heute haben sie Waffen, mit denen sie das ganze Leben auf ihrem Planeten auslöschen können. Darum sind sie zu einer Gefahr für den ganzen Planeten Yer geworden.

Erst, wenn die Nin begreifen, dass wojna und Unterdrückung nur scheinbaren Reichtum schaffen, dann können sie eine neue Art des Zusammenlebens finden. Dazu müssen sie aber begreifen, dass wahrer Reichtum nicht darin besteht, möglichst viele Dinge zu haben, mit denen man wieder möglichst viele Dinge produzieren kann und so weiter. Der wahre Reichtum kann für die Bewohner dieses Planeten wohl auch nur darin bestehen, dass möglichst viele Nin möglichst viel Zeit haben, um Musik zu machen, zu tanzen, miteinander zu plaudern, zu spielen, zu dichten, zu malen, zu erzählen, Sport zu treiben, mit einem Wort, das Leben zu verschönern. Sonst kann es ihnen passieren, dass wojna ihren ganzen Planeten zerstört, wie er einst das Römische Weltreich zerstört hat.

Auf jeden Fall ist es ganz und gar ausgeschlossen - so scheint es jedenfalls unserem Forscherteam - die Nin in die Gemeinschaft der Vereinten Sonnensysteme aufzunehmen, solange sie die einfachsten Grundregeln des Zusammenlebens von Vielen nicht verstanden haben. 

Offene Worte von einem Europäer

Ich will jetzt einmal ganz offen etwas sagen. Gerade jetzt, wo viele um den Brei herumreden, wo keiner sagt, was er wirklich denkt, weil es "sich nicht gehört", weil es gegen die Tradition ist, weil es an Erinnerungen rührt, die besser begraben bleiben sollten, gerade da ist es nötig, dass einer einmal offen ausspricht, wie es wirklich ist.

Natürlich sind Ausländer, auch die aus dem Süden und Osten, auch Menschen. Das bestreitet ja keiner. Natürlich haben sie Augen, Mund und Nase wie wir, sie empfinden Liebe und Angst wie wir, sind begabt oder dumm wie wir und so weiter und so fort. Natürlich gibt es unter ihnen genauso wie unter uns Anständige und weniger Anständige, und wenn sie in geordneten Verhältnissen aufwachsen, sind sie nicht krimineller als wir.

Aber darum geht es doch nicht. Worum es geht, ist: Wir haben hier etwas zu verteidigen. Wir haben hier unsere Kultur zu verteidigen, und wir haben hier unseren Wohlstand zu verteidigen, ohne den es diese Kultur nämlich nicht gäbe. Tatsache ist doch: Wir leben hier in einem der reichsten Länder der Welt. (Und das gilt für alle, die das hier lesen können, für Deutsche genauso wie für Schweizer und Österreicher.) Wir haben hier einen Wohlstand und eine soziale Sicherheit, von denen die Griechen oder die Polen bei sich zu Hause nur träumen können. Äthiopier oder Kolumbianer können sich das nicht einmal vorstellen.

Schauen wir den Tatsachen ins Auge: Von den sechs Milliarden Menschen auf dieser Welt leben nur eine Milliarde in den "Industrieländern". Und zu denen gehören eben wir. Wir, das reiche Sechstel der Menschheit, wir besitzen vier Fünftel des Reichtums der Erde! Wir verbrauchen 70 % der Energie, 60% der Lebensmittel, 85% des Holzes auf dieser Erde. Was, wenn die anderen daherkommen und ihren Anteil verlangen? Bis jetzt sind es eine oder eineinhalb Millionen arme Teufel, die sich zu uns flüchten, vor politischer Verfolgung, vor einem Krieg oder vorm Verhungern.

Na schön. Aber da draußen schauen nicht Millionen, sondern ein paar Milliarden armer Teufel voll Neid auf unseren Wohlstand!

Wir, das reiche Sechstel, haben sechzigmal soviel wie das ärmste Sechstel.. Das muss man sich einmal klarmachen, ganz ohne falsche Scham. Ein Deutscher verbraucht soviel Erdöl wie zehn Schwarzafrikaner. Ein Deutscher lässt soviel C02 in die Luft ab wie 65 Schwarze. Bei uns kommt auf zwei Einwohner ein Auto, Kinder mitgerechnet, in Indien kommt ein Auto auf 455 Leute. Wenn die auch alle so leben wollten wie wir, könnten wir den Planeten zusperren, da beißt die Maus keinen Faden ab! So viel Erdöl gibt es auf der Welt einfach nicht, dass die Schwarzen und Chinesen auch alle Auto fahren können. Das sind die Fakten!

Alle, die bei einem Tässchen Kaffee gern von Gerechtigkeit reden, die sollen sich einmal überlegen, wie viel sie für den Kaffee bezahlt haben. Vor zehn Jahren haben die Schwarzen da unten oder die Indios für 13000 Sack Kaffee von uns den Gegenwert von einer Lokomotive bekommen. Heute müssen sie uns, wenn sie eine Lokomotive kaufen wollen, 45000 Sack liefern. Man kann doch nicht sagen, dass uns das schadet. Auf unseren billigen Kaffee wollen wir alle nicht verzichten. Wie viele von denen, die so gerne von Gerechtigkeit reden, kaufen denn freiwillig den teureren Kaffee aus dem Dritte-Welt-Laden? Wer fragt, wenn er ein billiges indisches Baumwollhemd oder ein hübsches Seidentuch kauft, ob die nicht nur deswegen so billig sind, weil sie durch Kinderarbeit erzeugt werden?

Nein, uns allen ist das Hemd näher als der Rock, wir alle denken zuerst an die eigene Zukunft, an die eigene Familie. Das ist doch nur natürlich. Die Inder oder Chinesen würden es auch nicht anders machen, wenn sie die führenden Nationen der Welt wären.

Machen wir uns nichts vor: Unsere ganze Weltordnung beruht auf der Vorherrschaft der Weißen. Wo liegen denn die Industrieländer? In Nordamerika, in Europa, in Australien, Südafrika, Japan, Russland kann man schon gar nicht mehr dazurechnen. Praktisch sind das alles Weiße, die Japaner einmal ausgenommen.

Und mit absoluter Selbstverständlichkeit tun die Industrieländer alles, um ihre Vorherrschaft in der Welt zu verteidigen. Heute vor allem mit politischen und wirtschaftlichen Mitteln. Wir schützen ja nicht nur unsere Grenzen vor den Flüchtlingen aus den armen Ländern, wir schützen auch unsere Märkte vor ihren Produkten. Wir legen zum Beispiel auf rohe Baumwolle lange nicht so hohe Zölle wie auf fertige Textilien. Wir lassen uns von ihnen den Kakao liefern, aber keineswegs die fertige Schokolade. Wir müssen schließlich unsere Textil- oder Schokoladefabriken vor der Konkurrenz schützen. Wir können in Wahrheit überhaupt nicht daran interessiert sein, dass die Länder da unten ihre eigenen Industrien aufbauen, sich "entwickeln". Schließlich wollen wir ihnen weiter unsere Industrieprodukte teuer verkaufen und von ihnen billige Rohstoffe einkaufen.

Aber werden wirtschaftliche und politische Mittel - wie etwa die europäische Einigung - immer genügen, um unsere Vorherrschaft in der Welt zu sichern? Werden es eines Tages nicht auch militärische Mittel sein müssen? Als das Rote Weltreich zusammenkrachte, da haben einige eine Zeitlang so getan, als ob jetzt der ewige Frieden ausbrechen würde. Aber den Weiterblickenden war es klar, dass in Wahrheit die Probleme nicht so sehr aus dem Osten, sondern aus dem Süden kommen. Seit dem Golfkrieg ist das ganz klar: Als Saddam Hussein versucht hat, sich Kuwait unter den Nagel zu reißen, da hat er von uns, vom reichen Fünftel, auf die Finger gekriegt, dass es gekracht hat. Zum Glück hatten wir es da mit einem echten Diktator zu tun und einer echten Völkerrechtsverletzung, so dass niemand sagen kann, wir wären nicht im Recht gewesen. Aber nicht nur Saddam hat zu sehen gekriegt, was technologisch-militärische Überlegenheit ist. Der Fernsehkrieg hat dem ganzen Süden gezeigt, wer die Bosse sind auf der Welt. Und einen ähnlichen Dienst hat uns Herr Milosevic erwiesen, der zum Glück ebenfalls ein unbestreitbarer Diktator und Kriegsverbrecher ist, so dass es niemand wagt mir dem Finger auf uns zu zeigen und uns anzuklagen, dass wir diesen Krieg durch unannehmbare Ultimaten und andere diplomatische Taten und Unterlassungen mitverursacht haben. Denn diese Kriege waren letztendlich für uns notwendig.

Täuschen wir uns nicht! Täuschen wir uns nicht darüber, wie die anderen uns sehen: Jeder von uns kann sich im tiefsten Winter für 1,50 Mark eine Nelke aus Kolumbien kaufen. Ja und, fragt da jemand? Jeden Tag fliegen Flugzeuge um die halbe Welt, nur um uns frische Blumen von der anderen Seite der Erdkugel zu bringen!. Einen solchen Luxus konnten sich nicht einmal die Kaiser im Alten Rom leisten. Sind wir nicht die Aristokraten der Welt? Wir wären naiv, wenn wir uns einreden würden, dass die restlichen fünf Sechstel uns lieben.

Natürlich profitieren wir hier nicht alle gleich von unserer Vorrangstellung in der Welt. Ein paar kommen immer zu kurz, dagegen kann man nichts machen. Wir sind nun einmal eine Leistungsgesellschaft, und da geht es zu wie im Skirennen: Wenn einer um zwei Hundertstelsekunden langsamer ist als der andere, ist der doch deswegen nicht wirklich ein schlechterer Skiläufer. Aber es können eben nur drei eine Medaille kriegen, so sind die Regeln, und die anderen gehen leer aus.

Wir sind natürlich nicht nur eine Leistungsgesellschaft, sondern auch eine Wohlfahrtsgesellschaft, und die ärmsten Sozialhilfeempfänger bei uns leben immer noch besser als die meisten Mosambikaner. Aber darauf kommt es nicht an. Es gibt halt welche, die wissen, dass sie nie eine Medaille kriegen werden, die wissen, dass sie nie zu den Erfolgreichen und Berühmten zählen werden. Und die sind eben frustriert. Dagegen kann man nichts machen.

Sicher wäre es schön, wenn wir andere Werte an die Spitze stellen könnten, Freundlichkeit, Umgänglichkeit, Humor oder die Fähigkeit, sich zu freuen und das Leben zu genießen. Aber dann wären wir nie so reich geworden, wie wir es heute sind, darüber muss man sich im klaren sein. Unseren Wohlstand verdanken wir nicht zuletzt unserem Wertesystem, das den Erfolg an die Spitze stellt.

Und die da zu kurz gekommen sind, die sich überflüssig und nicht gebraucht vorkommen, die fühlen sich gedemütigt und haben eine Wut im Bauch. Sind sie nicht auch Weiße, Europäer, Deutsche, Angehörige einer Industrienation? Gehören sie denn nicht zu der Gruppe, die für sich in Anspruch nimmt, das Salz der Erde zu sein? Warum denn gerade sie nicht?

Natürlich können diese meist jungen Leute nicht verstehen, warum wir uns einerseits bei unseren wirtschaftlichen Aktivitäten in der Welt nur in äußerst begrenztem Maß von humanitären Überlegungen leiten lassen, aber andererseits doch einer - im Grunde verschwindend kleinen - Gruppe von Menschen humanitäre Hilfe gewähren. Sie überlegen - sicherlich vereinfachend - so: Wenn wir uns auf staatlicher und wirtschaftlicher Ebene gegenüber anderen Völkern als die Herren aufführen, warum dürfen wir das dann nicht auch gegenüber den einzelnen Angehörigen fremder Völker, und noch dazu im eigenen Land?

Sie übersehen, dass ein gewisses Mindestmaß an Humanität notwendig für unser Ansehen in der Welt ist und dadurch natürlich auch zu unseren wirtschaftlichen Erfolgen beiträgt. Sie übersehen auch, dass die Kosten dieser Humanität (wenn wir sie natürlich auch gerne herausstreichen) in Wahrheit nicht allzu hoch sind. Allein die deutschen Banken verdienen an den Zinsen, die die Entwicklungsländer für Kredite zahlen, das Vier- oder Fünffache dessen, was die Bundesregierung für die Flüchtlinge und Asylbewerber ausgibt. Sowieso kommen bei uns auf 1000 Einwohner nur 3 Flüchtlinge, während, sagen wir, ein Land wie Malawi mit 105 Flüchtlingen pro 1000 Einwohner fertig werden muss. 85 % der Weltflüchtlinge bleiben zum Glück sowieso in der Dritten Welt.

Dennoch sollte man für diese vielleicht übereifrigen, radikalisierten jungen Menschen Verständnis aufbringen und sie nicht in Bausch und Bogen als Rechtsextreme und Neonazis verteufeln.

Natürlich ist es unfein, Asylantenheime anzuzünden oder "Kanaken aufzuklatschen". Das ist primitiv und roh. Vor allem schaden solche extremen Aktionen unseren internationalen Beziehungen und damit direkt unseren Exportinteressen. Aber hinter diesen dummen, und - ich wiederhole es - absolut abzulehnenden Übertreibungen steckt doch auch eine Ahnung, ein ganz realistischer Gedanke: dass es notwendig ist, einen Schutzwall zu errichten gegen den Ansturm des Südens.

Sicher muss man die Ausschreitungen unterbinden. Die Ordnung muss gewahrt bleiben. Auf der anderen Seite müssen wir erkennen, dass die Grundhaltung, die sich in diesen Ausschreitungen ausdrückt, durchaus gesund ist und sich vollkommen logisch aus unserer Stellung in der Welt als politische und wirtschaftliche Macht ergibt. Und möglicherweise, ja höchstwahrscheinlich, werden wir diese Grundeinstellung einmal in einem noch viel stärkeren Ausmaß brauchen als heute: Wer kann sagen, dass wir unsere Errungenschaften, unsere Stellung in der Welt nicht eines Tages auch mit militärischen Mitteln verteidigen werden müssen? Wenn es einmal hart auf hart kommt, wenn es einmal erforderlich wird, unsere Kultur, unsere Werte, aber nicht zuletzt auch unseren Wohlstand und unsere Vorrangstellung in der Welt mit letzter Konsequenz zu verteidigen, dann wird das nur möglich sein, wenn ein gesundes, markiges "Deutschland zuerst", "Österreich zuerst" oder "Europa zuerst" als einer der Grundwerte unserer Kultur in den Köpfen und Herzen der Menschen verankert sein wird. Darüber müssen wir uns klar sein, darüber dürfen wir uns keiner Täuschung hingeben!

Ein Europäer

Die Bombe

Im Kaffeehaus wurde darüber diskutiert, was man im Falle eines Atomkrieges machen sollte. Herr Balaban sagte: "Wenn die Bombe fällt, dann soll man ein Bad nehmen, sich in ein weißes Tuch hüllen und langsam zum Friedhof gehen!"

"Warum denn langsam?"

"Damit keine Panik entsteht", sagte Herr Balaban.

Vorwort

Seit ich Bücher für Kinder schreibe, war es mir immer ein wichtiges Anliegen, das schwierige Thema „Krieg und Frieden" in einer für Kinder verständlichen Form zu behandeln. Mir scheint, dass es nicht genügt, den Kindern zu erzählen, dass Krieg schrecklich und Frieden viel schöner ist. Obwohl das natürlich schon ein Fortschritt ist gegenüber einer Jugendliteratur, die Soldatentum und Kriegstaten verherrlicht, die es ja auch gegeben hat. Aber die meisten Kinder in unseren Breiten wissen, dass Krieg etwas Schreckliches und Frieden viel schöner ist. Aber ist Frieden möglich? Oder ist der Krieg nicht ein unvermeidliches Schicksal, das immer wieder über die Menschen kommt? Lehrt uns nicht der Geschichtsunterricht ebenso wie die täglichen Abendnachrichten, dass es Krieg immer und überall auf der Welt gegeben hat und gibt? Kultur des Friedens, Verständnis für die anderen, friedliche Beilegung von Konflikten - das ist alles schön und gut: Aber was ist, wenn die anderen nicht wollen?

Ich kann mir nicht vorstellen, wie wir den Krieg aus dem Leben der Menschheit verbannen können, wenn wir nicht nach den Ursachen forschen, die den Krieg hervorbringen. Erst, wenn man die Ursachen einer Krankheit erkennt, kann man sie gezielt und wirkungsvoll bekämpfen. 

Ich habe zwar mein Geschichtsstudium an der Uni nur geschwänzt, aber für mich zu Hause habe ich das Studium der Geschichte bis heute fortgesetzt, weil mich als Schriftsteller natürlich immer die Frage beschäftigt, was denn das Tun und Denken der Menschen bestimmt. Aber natürlich kann ich nicht behaupten, dass ich den Stein der Weisen gefunden habe und in meinen Geschichten restlos erklären könne, was denn die Ursachen des Krieges sind. Und ich kann auch kein fertiges Rezept zur Vermeidung künftiger Kriege vorlegen. Aber die Geschichten wollen doch mehr sein als sogenannte „Denkanstöße". Die Dichter wollen immer nur Denkanstöße geben, aber irgendwann muss ja auch mal jemand zu denken beginnen. Die Geschichten, die ich hier gesammelt habe, wollen eine Richtung vorschlagen, in der man weiterdenken könnte, sie wollen ein Gefühl dafür vermitteln, wo und wie nach den Ursachen des Krieges geforscht werden könnte.

Die Geschichte "Der Träumer" entstand während einer Workshopwoche im Ötztal, die die Kulturinitiative "Feuerwerk" zum Thema "Frei wie Wind und Wolken" veranstaltete. Ich schrieb dort mit den Kindern ein "Wind- und Wolkenbuch". 

"Der blaue Junge" schrieb ich für die ZDF-Kinderserie "Siebenstein". Ich schrieb die Geschichte kurz nach der "Wende" 1989, als die ganze Welt von einer kurzfristigen Friedenseuphorie befallen war. Als die Geschichte in Buchform erschien, hatten wir bereits den ersten Golfkrieg erlebt. In dieser Geschichte geht es um die seelische Verhärtung, die Angst bewirken kann. Die Pointe der Geschichte ist nicht, dass der Junge am Schluss sein Gewehr wegwirft, sondern warum er es wegwirft. "Du könntest dein Gewehr ja wegwerfen", genügt nicht. Erst muss Hoffnung auf Veränderung da sein.

Auf dem Karottenplaneten zeigt, wie ein bestimmtes System des Zusammenlebens eine Eigendynamik entwickeln kann, so dass es sehr schwer wird, etwas daran zu ändern, und sogar die, die durch das System eigentlich benachteiligt werden, zu seinen Verteidigern werden.

Angst ist ein Beispiel dafür, wie wir oft unsere Vernunft nicht dazu gebrauchen, herauszufinden, wie die Wirklichkeit ist, sonder nur dazu, unsere Wünsche oder Triebe, unsere Furcht oder unseren Hass zu rechtfertigen. Die Fähigkeit des Menschenwesens, sich selbst zu belügen, ist eine seiner erstaunlichsten Eigenschaften. Im Unterricht möchten Sie vielleicht noch mehr Beispiele mit Ihren SchülerInnen suchen.

Dieselbe paranoide Logik, die in Angst gezeigt wird, wird auch in Noch einmal Angst dargestellt, doch diesmal auf der Ebene des Staates.

In Die seltsamen Leute vom Planeten Hortus geht es nicht um Moral sondern schlicht und einfach um die Kosten des Kriegführens. 

Als die Soldaten kamen zeigt in verdichteter Form, die schon kleinere Kinder verstehen können, dass es im Krieg dem Wesen nach um Eroberung und Ausbeutung geht, und nicht um Unterschiede in der Kultur oder der Religion, oder um Interessenskonflikte.
Zwischen egalitären Gesellschaften kann es Konflikte um Ressourcen geben, zum Beispiel um Land oder um Wasser. Diese Konflikte können gelöst werden. Entweder auf gewaltsame Art: Eine der beiden konkurrierenden Gruppen wird verjagt oder ausgerottet, oder beide Gruppen dezimieren einander, so lange bis die Ressourcen für die vorhandene Bevölkerung wieder ausreichen. Oder auf friedliche Art: Indem neue Ressourcen erschlossen werden oder vorhandene Ressourcen effektiver genutzt werden. Doch wie auch immer: Konflikte um Ressourcen können gelöst werden. Diese Konflikte sind endlich.
Doch hierarchische Gesellschaften, die darauf aufgebaut sind, dass eine Minderheit über eine Mehrheit herrscht und sich einen Teil des Arbeitsprodukts dieser Mehrheit aneignet, solche Gesellschaften entwickeln einen ständigen Drang zur Expansion: Je größer die beherrschte Bevölkerung, um so mehr Ressourcen kann sich die herrschende Minderheit aneignen, und kann sie wiederum in die Vergrößerung des beherrschten Gebiets investieren. Und da sie in Konkurrenz zu anderen hierarchischen Gesellschaften steht, ist sie auch gezwungen, nach der ständigen Vergrößerung des beherrschten Gebiets zu streben, um nicht ins Hintertreffen zu geraten. Bei diesen Eroberungen geht es nicht um Land, sondern um Menschen, die man als Sklaven ausbeuten kann, denen man einen Teil ihres Arbeitsprodukts in Form von Tribut oder Steuern abnehmen kann, bzw. es geht um die Beherrschung von Märkten, die ja auch wiederum aus Menschen bestehen.

"Der Krieg auf dem Mars" ist ein Versuch zu zeigen, wie die Tatsache, dass jeder seine - eigentlich harmlosen - Eigeninteressen verfolgt, zu Ergebnissen führen kann, die keiner gewollt hat.
Wenn ich die Geschichte erzähle, unterbreche ich meistens nach "Wir hätten vielleicht doch unseren Marschall kündigen sollen!" sagten die Moffer. Ich sage: "Was kann jetzt noch passieren außer puiiiii -WUMM!" Ich lasse das ein paar Sekunden einsinken, dann nehme ich die Geschichte wieder auf und erzähle den glücklichen Ausgang, der im wirklichen Leben ja nicht sehr wahrscheinlich wäre.
Wenn ich die Kinder frage, wer denn jetzt eigentlich für das ganze Schlamassel verantwortlich war, gibt es meistens sehr spannende Diskussionen. Wen immer die Kinder nennen - ich verteidige ihn und zeige, dass er gute Gründe für sein Handeln - oder Nichthandeln - hatte. Ich frage die Kinder: Was für einen Unterschied hätte es gemacht wenn sich einer der Bauern geweigert hätte, die Armee mit Kartoffeln zu beliefern? Jemand anderes hätte das Geschäft gemacht und der friedliebende Bauer müsste mit seiner Familie sogar hungern. Wenn er nichts bewirken kann, hat er dann nicht recht, so zu handeln wie es für seine Familie am besten ist? Was kann also die Lösung sein?
In Frieden beginnt bei dir selbst wird diese Frage behandelt.

Der Krieg zwischen Sonne und Mond wurde das erste Mal auf Englisch in der indischen Zeitschrift "Parenting" veröffentlicht. Sie soll zwei Punkte illustrieren: Der erste ist, dass Religion oft benutzt wird, um Aggression zu rechtfertigen, wenn in Wahrheit materielle Motive der Kern des Konflikts sind. Es wird immer Frömmler wie Frau Pema und Herr Tashi geben. Doch die entscheidende Frage ist: Unter welchen Umständen können sie eine Anhängerschaft um sich scharen, unter welchen Umständen werden politische Anführer wie Herr Dorji sich der Sache der Religion annehmen? Der zweite Punkt ist natürlich, dass Konflikte um Ressourcen in mehr als einer Weise gelöst werden können, und dass es oft möglich ist, eine friedliche Lösung zu finden, zum Beispiel, die knappen Ressourcen effektiver zu nutzen. Doch die Geschichte sollte mit der Geschichte "Als die Soldaten kamen" verglichen werden. Was ist der Unterschied zwischen dem Konflikt von König Ubuk und König Babak auf der einen Seite und dem Konflikt der Dörfer Tralong und Namkah auf der anderen? Wie sind die beiden Gesellschaften aufgebaut? Was sind die Ziele der Konfliktgegner?

Auch in Der Sklave geht es darum, wie es geschehen kann, dass Menschen sich Systeme schaffen, zu deren Gefangenen sie dann selber werden.

Ich schrieb Die guten Rechner nachdem ich das Buch Die Logik kollektiven Handelns (The Logic of Collective Action) des Ökonomen Mancur Olson gelesen hatte. In diesem Buch zeigt der Autor dass es theoretisch unmöglich ist, dass eine große Gruppe von Individuen, die rational im Eigeninteresse handeln (das ist das beliebte Modell der modernen Wirtschaftslehre, der homo economicus) für ein gemeinsames Anliegen zusammenarbeitet, und zwar sogar dann, wenn jeder einzelne weiß, dass es für alle besser wäre, wenn alle für dieses Anliegen arbeiten. Er zeigt auch, dass es für kleinere Gruppen leichter ist, für ein gemeinsames Anliegen zusammenzuarbeiten, als für sehr große Gruppen.

Der seltsame Krieg zeigt eine mögliche Form des passiven Widerstands. Welche Art des Widerstands möglich ist, hängt freilich von den Zielen der Angreifer ab. Wenn es den Angreifern darum geht, das andere Volk auszurotten, wird diese Form des Widerstands nicht möglich sein. Doch die meisten Kriege werden geführt, um Völker zu unterwerfen, nicht um sie auszurotten.

Arobanai schildert das Leben der BaMbuti ("Pygmäen") im Kongo als Beispiel für die Lebensweise von Sammler- und Jägergesellschaften. Sie beruht auf den Forschungen von Colin Turnbull ("The Forest People"). Alle bekannten Sammler- und Jägergesellschaften sind egalitär, mit sehr schwachen oder gar keinen Anführern. Sie führen keine Kriege, denn mehr Land zu erobern würde ihnen keine Vorteile bringen. Sie könnten es nicht "bewirtschaften". Es kann vorkommen, dass sie mit einer benachbarten Gruppe um eine Ressource kämpfen, wie zum Beispiel einen Baum, der reich an Honig wilder Bienen ist.
Dass sie keine Kriege führen, heißt nicht, dass sie nicht gewalttätig sein können. Der Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt hat darauf hingewiesen, dass die Khoi ("Buschmänner") der Kalahariwüste zwar keine Kriege führen, aber eine extrem hohe Mordrate haben. Doch das belegt nur die Theorie, dass die Ursache von Kriegen nicht die gewalttätige Natur des Individuums ist, sondern die Struktur der Gesellschaft.

Sternenschlange ist die Geschichte eines jungen aztekischen Kriegers und die Geschichte der Entstehung des Aztekenreiches.
Die zwei Texte Arobanai und Sternenschlange stellen eine der friedlichsten und liebevollsten Gesellschaften die je auf dieser Erde gelebt haben einer der grausamsten und kriegerischsten gegenüber. Die beiden Geschichten sollten zusammen gelesen werden. Die Aufgabe der SchülerInnen sollte sein, den Aufbau der beiden Gesellschaften und die verschiedenen Lebensbereiche miteinander zu vergleichen. Was ist die wirtschaftliche Grundlage der beiden Gesellschaften? Wie werden die Güter verteilt? Wie wird die Arbeit zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft aufgeteilt? Wie sieht die vorherrschende Moral aus? Wie werden die Kinder und jungen Leute erzogen und ausgebildet? Welche Ideale lehrt man sie? Und schließlich: Wie ist es möglich dass Angehörige der selben Spezies Mensch sich so sehr in ihren Gefühlen, Gedanken, Werten und Handlungen unterscheiden können?

Frieden beginnt bei dir selbst wurde durch die Verkehrssituation in Beirut angeregt. Aber natürlich ist der Straßenverkehr hier nur ein Beispiel für soziale Verwicklungen. Wenn man die Worte "Frieden beginnt" in irgendeine Suchmaschine einträgt, bekommt man erstaunlich viele Seiten von der Sorte: "Frieden beginnt bei dir selbst", "Frieden beginnt vor der Haustür". Aber was ist der nächste Schritt?
Der Philosoph Karl Popper hat vor revolutionären Veränderungen gewarnt. Er schlug eine Politik der kleinen Schritte vor, eine "Technik des schrittweisen Umbaus der Gesellschaftsordnung". Er argumentierte, dass soziale Experimente in kleinem Rahmen nicht so viel Unheil anrichten könnten und leichter rückgängig gemacht werden könnten, wenn sie fehlschlügen. Er sagte aber nicht, wie klein oder wie groß die Schritte sein sollten. Meiner Meinung nach übersah er, dass soziale Systeme dazu neigen, sich in einem relativen Gleichgewichtszustand zu stabilisieren. Wenn man eine Kugel auf den Boden einer Schüssel legt und sie ein wenig anstößt, wird sie etwas zum Rand hinauf rollen und dann wieder zurückkommen. Wenn man sie ein bisschen stärker anstößt, wird sie ein bisschen weiter die Wand hinaufrollen, aber dennoch wieder zurückkommen. Es bedarf eines bestimmten Minimums an Kraft, um die Kugel über den Rand zu stoßen. Jeder kleinere Kraftaufwand bleibt ohne dauerhaftes Ergebnis.
Nehmen wir das Beispiel eines Stadtrats, der eine "üble Gegend" der Stadt verbessern will. Die Straßen sind dort mit Abfall übersät, also lässt der Stadtrat Abfallkörbe aufstellen. Aber vergeblich. Fast niemand benützt sie.
Warum?
Wenn man in einer "anständigen Wohngegend" eine Bananenschale auf den Gehsteig fallen lässt und einen jemand sieht, dann wird derjenige einen vielleicht ansprechen und mehr oder weniger höflich ersuchen, doch in Zukunft den Abfallkorb zu benützen. Vielleicht hebt sogar jemand die Bananenschale auf und wirft sie selber in den Abfallkorb. In einer "anständigen Gegend" macht eine Bananenschale auf dem Gehsteig einen großen Unterschied, und jeder Bewohner der "anständigen Gegend" möchte, dass die Gegend anständig bleibt.
In dem "üblen Stadtviertel" macht eine Bananenschale mehr auf dem Gehsteig überhaupt keinen Unterschied. Und die Bananenschale in den Abfallkorb zu werfen, macht auch keinen Unterschied. Wozu sich also die Mühe machen?
Wenn man also will, dass die Menschen die Abfallkörbe benutzen, muss man erst einmal die Straßen säubern und allen Abfall entfernen, damit eine Bananenschale im Abfallkorb auch wirklich einen Unterschied macht. Wahrscheinlich wird man auch eine Aufklärungskampagne machen müssen, denn die Leute sind schon lange daran gewöhnt, ihren Abfall auf die Straße zu werfen. Sie werden irgendwie übereinkommen müssen, dass saubere Straßen gut für ihre Gesundheit sind. Vielleicht haben sie ja auch noch größere Probleme als Abfall, denn das "üble Stadtviertel" ist oft ein armes Stadtviertel.
Die schlechte Nachricht ist, dass Situationen, in denen Menschen für ein gemeinsames Anliegen zusammenarbeiten gewöhnlich weniger stabil sind als solche, in denen jeder für sich selbst sorgt. Ein einziger nachlässiger Dreckfink wird das Gleichgewicht einer "anständigen Gegend" nicht zerstören. Aber wenn 10% oder 20% der Bewohner nachlässig werden und ihren Dreck auf die Straße schmeißen, wird der Rest der Bevölkerung vielleicht bald aufgeben und ebenfalls nachlässig werden, oder das Viertel verlassen. 10% oder 20% der Bewohner können eine "anständige Gegend" ruinieren. Wenn aber 10% oder 20% der Bewohner der dreckigen Straße anfangen, die Abfallkörbe zu benutzen, wird das noch nicht einmal auffallen und es wird ihnen nicht gelingen, die Straße zu einer sauberen Straße zu machen, wenn sie nicht auch aktiv versuchen, ihre Nachbarn zu überzeugen.

Die zwei Gefangenen behandelt eine Situation, die in der Spieltheorie "Gefangenendilemma" genannt wird. Es ist ein klassisches Modell dafür, wie das durchaus rationale Streben nach dem größtmöglichen Vorteil für einen selbst zu einem Ergebnis führen kann, das allen schadet, einen selbst mit eingeschlossen. So lange man sich an die Bedingungen des Modells hält, dass die zwei Gefangenen nicht kommunizieren können, gibt es keine Lösung.

Gerechtigkeit habe ich für einen Kongress über Kinderbücher in Israel im Jahr 2001 geschrieben. "Gerechtigkeit" ist ein mehrdeutiger Begriff und wird oft missbraucht. Was ist eine gerechte Verteilung von Gütern? Jedem zu geben, was ihm oder ihr zusteht? Oder jedem zu geben, was er oder sie für ein annehmbar gutes Leben braucht? Wie entscheidet man, was jemandem zusteht? Und wer entscheidet?
Und wenn jemand ein Verbrechen begeht, was ist eine gerechte Strafe? Auge um Auge, Zahn um Zahn? Soll man einen Mörder töten? Einen Vergewaltiger vergewaltigen? Und was tut man mit Massenmördern? Man kann einen Menschen nur einmal töten. Für die Mörder meiner Großeltern, die im Holocaust umgebracht wurden, könnte es niemals eine "gerechte" Strafe geben. Und für meinen Vater, der überlebt hat, hätte es niemals eine "gerechte" Entschädigung geben können. Mein Vater hat niemals nach Gerechtigkeit oder Rache gestrebt. Sein Ziel im Leben war zu verstehen, was geschehen war und wie es geschehen konnte und wie etwas Ähnliches in der Zukunft verhindert werden könnte.

Die verhexten Inseln: Was macht einen König zum König? Irgend eine Eigenschaft, mit der er geboren wurde? Irgendwelche Fähigkeiten, die er erlernt hat? Nein, bloß die Tatsache, dass andere ihn als König anerkennen. Was macht Geld zu Geld? Irgend eine Eigenschaft des Materials, aus dem es gemacht ist? Die Buchstaben und Zahlen, die darauf gestempelt sind? Nein, bloß die Tatsache, dass Menschen es als Geld anerkennen. Viele Wörter die ein bestimmtes Ding zu bezeichnen scheinen, bezeichnen in Wirklichkeit ein bestimmtes Verhalten der Menschen. Der Satz: "Dieses Paar Schuhe kostet 20 Euro" scheint eine Eigenschaft der Schuhe zu beschreiben. Aber das ist nicht so: Jemand verlangt 20 Euro, jemand bezahlt 20 Euro. Der Preis ist keine Eigenschaft der Schuhe sondern ein bestimmtes menschliches Verhalten. Ein "Preis" oder ein "Gesetz" oder ein "Land" ist nur Ausdruck von bestimmten Spielregeln, so wie ein "Trumpf" oder ein "Royal Flush". Wird ein Royal Flush immer ein Full House schlagen? Ja, solange wir Poker spielen. Entscheiden wir uns aber, Bridge zu spielen, verlieren Wörter wie "Royal Flush" jede Bedeutung, auch wenn wir immer noch dieselben 52 Karten in der Hand halten.

Geld handelt von wirtschaftlicher Eroberung. Das, was hier beschrieben wird, hat sich so ähnlich mehr als einmal in der Geschichte des Kolonialismus abgespielt. Die Geschichte versucht auch den rätselhaftesten Aspekt des Geldes zu erklären: Warum kriegt man überhaupt etwas dafür? Alle früheren Formen von Geld sind relativ leicht zu verstehen: Menschen waren bereit, nützliche Dinge für Geld einzutauschen, weil die Dinge, die als Geld benutzt wurden, selber nützlich waren. Ob Kakaobohnen, Kaurischalen, Kamele, Kupfer, Silber oder Gold: Man wusste, dass man diese Dinge für praktisch alles eintauschen konnte, weil fast jeder sie brauchen konnte. Man konnte das "Geld" essen oder melken oder darauf reiten oder es zu Werkzeugen oder zu Schmuck verarbeiten. Alles, was viele Menschen haben wollen, kann als Geld dienen, als Tauschmittel. Heutzutage akzeptieren die Menschen wertloses Papiergeld (Nein, die Bank garantiert nicht, einem Gold dafür zu geben! Das ist lange her!), weil sie es brauchen, um die Steuern zu zahlen. Das ist das simple Geheimnis.

Im Krieg zeigt, dass der Krieg viele Seiten hat, die anziehend sind für Jungen und Männer, sogar für Mädchen und Frauen. Wenn es nicht so wäre, wäre es viel schwieriger, die Männer (und Jungen und Frauen und Mädchen) dazu zu bringen, in die Schlacht zu marschieren.

Die Geschichte von einem guten König habe ich 2010 in Korea geschrieben. Ich nahm an einem Treffen von Autoren und Illustratoren aus der ganzen Welt teil. Sie alle hatten zu einer Sammlung von Friedensgeschichten beigesteuert und waren zusammengekommen, um die Veröffentlichung des Buchs zu feiern. Es wurde viel über die Macht der Liebe und die Bedeutung von Toleranz und Freundschaft gesprochen. "Wenn Menschen gemeinsam singen und tanzen werden sie später nicht gegeneinander kämpfen" lautete ein Redebeitrag, der viel Applaus bekam. Ich widersprach nicht gerne, aber ich musste es tun, denn es stimmt leider gar nicht. Wie oft ist es schon passiert, dass Menschen, die gute Freunde und Nachbarn waren sich plötzlich auf verschiedenen Seiten der Front wiederfanden! Obwohl Freundschaft, Toleranz und Liebe unverzichtbare Werte sind, genügen sie leider nicht. Wir müssen unsere Kinder auch kritisches Denken und eine analytische Weltsicht lehren. Wir müssen verstehen und unseren Kindern helfen zu verstehen, dass große Gruppen von Menschen sich anders verhalten als einzelne Menschen. Staaten fangen nicht an, miteinander zu kämpfen, weil sie einander nicht mögen. Man kann das Verhalten von Staaten oder Stämmen, von Firmen oder Religionsgemeinschaften nicht mit Psychologie erklären. Denn solche Organisationen sind aus vielen Individuen zusammengesetzt, deren Psychologie, Weltsicht und Interessen sich untereinander unterscheiden und die nur ein begrenztes Wissen darüber haben, was die anderen Mitglieder der Gruppe vorhaben. Das Verhalten der Gruppe wird durch das Verhalten aller ihrer Mitglieder bestimmt, doch das Ergebnis kann sich von allem unterscheiden, was jedes einzelne Mitglied der Gruppe angestrebt hatte. Als ein weiteres Beispiel habe ich diese Geschichte geschrieben.

Bericht an den Rat der vereinten Sonnensysteme ist vielleicht das, was der Blaue Junge erkannt hat in den Jahren, in denen er durchs Fernrohr den blauen Planeten studierte.
Yer ist übrigens Türkisch und bedeutet Erde. Nin ist Japanisch und bedeutet Mensch oder Person. Wojna ist Polnisch und bedeutet natürlich Krieg.
Die erste Fassung dieser Geschichte schrieb ich auch bei jener Workshopwoche im Ötztal, bei der die Kinder sich von mir Geschichten wünschen durften. Ein Mädchen, das zufällig den gleichen Nachnamen trägt wie ich und mit Vornamen Nina heißt, brachte mir damals einen Zettel auf dem stand: "Martin bitte sag mir, warum es den Krieg gibt." Die Geschichte beruht unter anderem auf den Forschungen von Lewis Mumford ("Der Mythos der Maschine"), aber natürlich auch auf meinen eigenen Überlegungen. Früher war ich der Meinung, dass es eine Zeit gegeben hat, wo die Menschen den Krieg überhaupt nicht kannten. Als ich bei Jane Goodall von einem Krieg unter Schimpansen las, musste ich diese Meinung revidieren. Auch in der Epoche der Sammlerinnen und Jäger* konnte es geschehen, dass eine Gruppe neue Jagdgründe suchen musste und dabei einer anderen ins Gehege kam. Doch mit der Vertreibung der einen Gruppe war der Krieg vorbei. Er konnte vorkommen, aber er war kein entscheidender Bestandteil der Kultur. Erst die Entwicklung der Landwirtschaft in Form von Ackerbau oder Viehzucht gab den Menschen die Möglichkeit, Vorräte anzulegen, so dass sie überhaupt die Zeit für Kriegszüge hatten, und auf Seiten der Opfer waren diese Vorräte etwas, das man rauben konnte, ohne die Beraubten dadurch unbedingt zu vernichten. Der Krieg wurde zu einer ständigen Einrichtung, weil er ein Mittel war, die Überschüsse kleinerer Menschengruppen zusammenzufassen und in Maßnahmen zu investieren, die eine Erhöhung der Produktivität zur Folge hatten, also die Erzeugung von noch mehr Überschüssen, die wieder in den Fortschritt investiert werden konnten usw. Und zwar ein weit effektiveres Mittel, als es etwa Verhandlungen und freiwillige Zusammenschlüsse gewesen wären. Dabei ist nicht so entscheidend, was die Motivation der einzelnen Machthaber und Krieger war. In der Natur entstehen Eigenschaften wie, sagen wir,  Hörner durch zufällige Mutation. Ob die Hörner erhalten bleiben oder verschwinden hängt davon ab, ob sie ihren Trägern einen Fortpflanzungsvorteil bieten oder hinderlich sind. Ein Häuptling mag einen Krieg anfangen aus Hass auf die Nachbarn, aus Geltungsdrang, aus religiösen Gründen, aus purem Übermut, aus aufgestauter Aggressivität, aus sexueller Frustration, was auch immer. Aber als ständige Einrichtung erhalten bleiben kann der Krieg, weil er die Zusammenfassung der Menschen in großen Reichen befördert und so die Zusammenfassung ihrer Überschüsse ermöglicht, weil er zweitens einem großen Teil dieser Menschen mehr an Überschüssen abverlangt, als sie freiwillig bereit wären, in die gemeinsame Sache oder in die Zukunft zu investieren, weil er also letztlich den „Fortschritt" in Gestalt der Erhöhung der Produktivität der menschlichen Arbeit befördert. Der Vorteil für die Gesellschaft muss allerdings kein Vorteil für das Individuum sein. Eine Gemeinschaft von 500 freien Bauernfamilien wird glücklicher gewesen sein als ein Heer von 100.000 Bauernfamilien unter der Herrschaft eines Kriegerhäuptlings. Doch die Hauptstadt mit Tempeln und Priesterschulen, wo der Lauf der Sterne erforscht wurde, konnte sich nur das Reich des Kriegerhäuptlings leisten.
Die Aggression, zu der Menschen fähig sind, ist sicher eine Voraussetzung dafür, dass überhaupt Kriege geführt werden können, aber sie ist nicht ihre Ursache. Waren die jungen Männer in Österreich-Ungarn 1914 etwa aggressiver als, sagen wir, 1880? Oder ist der Kaiser auf seine alten Tage aggressiv geworden? Oft muss die Aggressivität der Menschen und ihr Hass auf die Nachbarn erst geschürt werden, damit sie bereit sind, in den Krieg zu ziehen oder ihre Kinder ziehen zu lassen. Oft muss aber die Aggressivität der Soldaten auch gezügelt werden. Während man auf der einen Seite für bestimmte Spezialeinheiten Menschen zu Berserkern erzieht, braucht eine moderne Armee in erster Linie Menschen, die diszipliniert sind und verlässlich funktionieren, also sich möglichst wenig von Emotionen leiten lassen. So wichtig alle Erziehungsmaßnahmen sind, die dem Abbau von Aggressionen dienen, dem Verständnis für fremde Kulturen, der Fähigkeit zur friedlichen Konfliktlösung im Privaten - die Ursachen des Kriegs können sie nicht beseitigen. Die industrielle Marktwirtschaft, die heute das Zusammenleben der Menschen auf unserem Planeten beherrscht, ist wie keine andere Gesellschaftsform vorher auf die Erhöhung der Produktivität aus, darauf, noch mehr Güter mit noch weniger Arbeit zu erzeugen und die Überschüsse sofort wieder in die Steigerung der Produktion und der Produktivität zu investieren. Das führt nicht nur dazu, dass wir bald an die Grenze dessen stoßen, was der Planet ökologisch verkraften kann. Hier liegt auch die Wurzel neuer Kriege. Man sagt, dass die Kriege der Zukunft um knapper werdende Ressourcen geführt werden könnten, z.B. um Wasser. Das ist denkbar. Doch ebenso denkbar ist es, dass die künftigen Kriege zwischen den großen Wirtschaftsblöcken geführt werden, und es darum gehen wird, wer wem etwas verkaufen darf.
Um künftige Kriege zu vermeiden, müssen sich 7 Milliarden Menschen - und bald werden es 8 und 9 Milliarden sein - auf neue Formen des Wirtschaftens und des Zusammenlebens einigen. Nicht mehr die ständige Steigerung der Produktivität darf das Ziel sein - mit immer weniger Arbeit immer mehr zu erzeugen; nicht der Austausch von Dingen darf der Hauptinhalt zwischenmenschlichen Handelns sein; die Tatsache, dass die Dinge mit immer weniger Arbeit hergestellt werden können, darf  nicht dazu führen, dass immer mehr Dinge hergestellt werden, sondern dass die Menschen die freiwerdende Zeit dazu benutzen können, soziale („Dienst"-)Leistungen miteinander auszutauschen: Kunst, Unterhaltung, Pflege, Heilung, Unterricht, Forschung, Sport, Philosophie...

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